Kriminologe: »Die Logik der Polizei ist Überwältigung«

Der Kriminologe Rafael Behr fordert einen sachlichen Umgang mit Gewalt bei Einsätzen der Polizei

  • Interview: David Bieber
  • Lesedauer: 5 Min.
Gewalt bei Polizeieinsätzen müsse immer als Interaktionsverhältnis begriffen werden, sagt der Kriminologe Rafael Behr. Von vornherein könne nicht klar zwischen Täter und Opfer unterschieden werden.
Gewalt bei Polizeieinsätzen müsse immer als Interaktionsverhältnis begriffen werden, sagt der Kriminologe Rafael Behr. Von vornherein könne nicht klar zwischen Täter und Opfer unterschieden werden.

Die Polizei wendet bei Einsätzen auch immer wieder Gewalt an. Wird manchmal nicht zu schnell der Knüppel oder die Pistole bei Einsätzen gezogen?

Generell kann ich das nicht bestätigen. Was man aber sagen kann, ist, dass es zunehmend objektive Beweismittel wie Smartphones gibt, die solche Szenen aufnehmen und dann möglicherweise die Darstellung der eingesetzten Polizeikräfte, wonach alle Gewalt vom Gegenüber ausgeht, anders erscheinen lassen. Aber wie oft es vorkommt, dass Polizeikräfte einen Einsatz so schildern, dass sie nur auf Gegengewalt reagiert haben, ohne selbst übergriffig geworden zu sein, können wir mangels Beweisen oft nicht überprüfen. Wir können aber sagen, dass es in letzter Zeit öfter vorgekommen ist, dass sich Schilderungen der Polizei durch das Auftauchen von Videos oder Telefonmitschnitten als falsch herausgestellt haben.

Im Sommer 2022 ist der Einsatz gegen Mouhamed Dramé in Dortmund aus dem Ruder gelaufen. Der 16-jährige Senegalese war suizidgefährdet und wurde bei einem martialischen Polizeieinsatz erschossen. Der Fall hat die Polizeiarbeit nicht nur in Nordrhein-Westfalen überschattet. Was ist aus Ihrer Sicht falsch gelaufen?

Falsch würde ich dazu nicht sagen. Es ist einfach so, dass Polizist*innen solche Situationen schnell und effektvoll beenden wollen. Und da überschlagen sich dann einzelne Maßnahmen und führen im Ergebnis zur Katastrophe. Ich finde, was den Weg für einen weniger gewaltvollen Verlauf versperrt hat, ist die Wahrnehmung der Einsatzkräfte, die bei dem Jugendlichen nur und ausschließlich die Gefahr gesehen haben und nicht die Not. Sie sind laut und schnell vorgegangen und hätten vielleicht mit weniger Tempo und Lautstärke mehr bewirkt.

Warum waren die Einsatzkräfte so martialisch bewaffnet.

Sie haben diese unselige Maschinenpistole mitgenommen, weil sie offenbar glaubten, sich mit ihr besser durchsetzen zu können. Die Logik der Polizei ist Überwältigung – alles andere steht dahinter zurück. Und diese Logik sorgt dafür, dass Polizist*innen vom Teil der Lösung zum Teil des Problems werden. Das zeigt sich schon in der Wortwahl im Protokoll: »Er drohte damit, sich das Leben zu nehmen« – die Einsatzkräfte fühlten sich tatsächlich bedroht. Sie haben nicht die Verzweiflung gesehen, den Hilferuf, sondern nur die gegen sie gerichtete Drohung. Das war offensichtlich eine Fehleinschätzung.

Interview

Rafael Behr ist Professor für Polizei­wissen­schaften am Fachhochschul­bereich der Akademie der Polizei Hamburg und lehrt dort Kriminologie und Soziologie. Er leitet die Forschungsstelle Kultur und Sicherheit.

Hätte der Todesschütze des jungen Senegalesen, dem bei Verurteilung der Beamtenstatus entzogen werden dürfte, nicht auf die Beine anstatt auf den Oberkörper und Kopf zielen können?

Das lässt sich in solchen Situationen nur von sehr geübten Schütz*innen bewerkstelligen. Das kann man aber von durchschnittlich trainierten Beamten des Wach- und Wechseldienstes nicht erwarten. Man könnte aber verhindern, dass sie zu solchen Einsätzen eine Maschinenpistole überhaupt mitnehmen. Aber weniger Waffen mitzunehmen, das traut sich im Moment niemand anzuordnen.

Das Innenministerium und die Gewerkschaft der Polizei haben sich für die Aufstockung der Trainings und Weiterbildungen im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen und für die Ausweitung von Bodycams ausgesprochen. Reicht das aus?

Das halte ich für eine Alibi-Ankündigung: Das Einsatztraining soll von fünf auf sieben Tage aufgestockt werden. Man lernt den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmezuständen und unter Stress nicht in zwei Tagen mehr Einsatztraining. Solange sich jedoch die Einsatzlogik der wirkungsvollen Überwältigung nicht ändert, hilft auch mehr Training nichts. Aber immerhin wird überhaupt etwas getan. Noch schlimmer ist es aber mit der Bodycam: Innenminister Herbert Reul verkauft uns da tatsächlich ein Stück Kohle für einen Diamanten.

Wie meinen Sie das?

Er hat vollmundig verkündet, dass nun Einsatzkräfte Bodycams tragen sollen – allerdings entscheiden die Beamten weiterhin selbst, ob und wann sie die Kameras einschalten. Solange nicht das Einschalten obligatorisch ist, nützt diese Anordnung gar nichts. In Dortmund waren ja genügend Bodycams am Einsatzort, aber sie blieben aus. Ich finde es grotesk, diese Anweisung als Lernerfolg zu verkaufen. Es ist aber gar nicht der Minister, der da ein falsches Spiel spielt, sondern die Gewerkschaften, die partout verhindern wollen, dass Polizeibeamte objektive Beweismittel für ihr Einsatzverhalten liefern. Sie dringen darauf, auch künftig nur dann die Kamera anzuschalten, wenn Polizist*innen angegriffen werden. Damit setzen die Gewerkschaften Einsatzkräfte aber weiterhin Situationen aus, in denen die Kameras aus sind und von denen sie glauben, dass sie die so rekonstruieren können, dass ihr Handeln richtig oder als Notwehr erscheint. Solche zweifelhafte Situationen könnten jedoch von vornherein vermieden werden, wenn die Polizist*innen wüssten, dass die Bodycams den Einsatz generell aufnehmen. Bodycams sollten eine Art Blackbox für Gewaltvorfälle sein. Und sie sollten nicht nur Polizisten schützen, sondern das Recht.

Sie sind Forscher. Welche Bereiche im Zusammenhang mit Gewalt von und gegen Polizist*innen erfordern weitere Forschung?

Man müsste noch viel mehr wissen über die Bedingungen des Zustandekommens von Gewalt von und an der Polizei. Dazu braucht man empirische Daten. Die bekommt man aber nicht durch Online-Befragungen etwa für die Megavo-Studie (Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten) und auch nicht dadurch, dass man Polizist*innen nur als Opfer von Gewalt sieht. Die Gewaltforschung könnte hier viel beisteuern, um Gewaltsituationen besser zu analysieren und um auch klug zu deeskalieren. Außerdem müsste man mehr über Einsatzmittel forschen, die nicht tödlich wirken. Ich werde immer ausgelacht, wenn ich für die Messerangriffe zum Beispiel Distanzstangen ins Spiel bringe. Dabei kann ich mir vorstellen, dass bei genügend Nachdruck auch andere nicht tödlich wirkende Instrumente für die Polizei gefunden werden könnten. Ich frage mich wirklich, warum das nicht stärker betrieben wird.

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