Wegen Pfefferspray: Berliner Polizei observiert illegal

Nach einer Personenkontrolle wurde ein linker Aktivist über Monate observiert – zu Unrecht und verfassungswidrig

Beschattungen durch die Sicherheitsbehörden stehen in Berlin auf rechtlich tönernen Füßen.
Beschattungen durch die Sicherheitsbehörden stehen in Berlin auf rechtlich tönernen Füßen.

Eigentlich sind Observationen verdeckte Maßnahmen. Polizist*innen liegen im Gebüsch und machen Fotos von Verdächtigen, fahren mit Autos durch die Stadt und beobachten heimlich Kriminelle – Stoff für Krimis und Agentenfilme. Manchmal scheinen solche Maßnahmen zumindest in Berlin so offensichtlich zu sein, dass Observationskräfte konfrontiert werden. Er habe einen offenkundigen, ihm schon bekannten Beamten in einem Fahrzeug, das ihm nicht zum ersten Mal folgte, gefragt, ob man sich nicht einfach das Auto teilen könne, schreibt ein linksradikaler Aktivist, der observiert wurde. »Das LKA kann Kräfte reduzieren, ich hab ein kostenloses Taxi, die Polizei weiß immer, wo ich bin. Sozusagen eine Win-Win-Situation.« Der Polizist habe den Vorschlag gut gefunden. Aber das sei dienstrechtlich nicht zu machen, habe er gesagt.

Die Situation beschreibt der Aktivist, der anonym bleiben will, in einer Prozesserklärung, die »nd« vorliegt. Er wurde zwischen dem 23. Mai 2016 und dem 22. August 2016 von der Berliner Polizei observiert, zur Gefahrenabwehr, also präventiv. Zu Unrecht, wie das Verwaltungsgericht Berlin erst kürzlich im Juni 2024 feststellte, nachdem er gegen die Maßnahme geklagt hatte.

Unbegründete Observation

Die Polizei Berlin ordnet den Kläger der »aktionsorientierten und gewaltbereiten linken Szene Berlins« zu. Der konkrete Anlass, der zur Begründung der Observation herangezogen wurde, ist banal: 2015 wurde bei einer Polizeikontrolle ein Pfefferspray bei dem Mann gefunden. Die Schlussfolgerung: Es hätten Tatsachen vorgelegen, die die Annahme rechtfertigen würden, dass durch den Kläger Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden sollen, zitiert das Gericht die Polizei Berlin. Insbesondere Brandstiftungen und gefährliche Körperverletzungen seien zu befürchten gewesen. Er soll so gefährlich sein, dass nicht nur die langfristige Observation gerechtfertigt gewesen sei, sondern auch, dass selbst dem Gericht die Beschlüsse von 2016, mit denen die weitreichenden Überwachungsmaßnahmen begründet wurden, nicht ungeschwärzt oder vollständig zur Verfügung gestellt wurden.

»Das ist ein absurder Kreislauf«, sagt der von der damaligen Maßnahme betroffene Aktivist zu »nd«. Die Polizei ordne Personen irgendeiner Szene zu, kontrolliere sie dann gezielt und die Kontrollen lieferten dann die Begründung für weitere Maßnahmen und Ermittlungen.

Maßnahmen gab es viele. Im Laufe der Jahre entdeckten der Kläger und sein Umfeld Abhörgeräte in Kopfstützen von Autos, zwei GPS-Tracker, eine Kamera in einer eigens dafür angemieteten Wohnung, die den Eingang der Wohnung filmte. Betroffen davon waren nicht nur die Person, gegen die sich die Maßnahme richtete, sondern auch alle, die mit ihr Kontakt hatten, sei es nur beim gemeinsamen Bier. Ein krasser Eingriff in die Persönlichkeitsrechte.

Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass zumindest die Anordnung von 2016 rechtswidrig war. Zwar sei der Kläger Teil der »linksextremen Szene«. Es hätten aber keine Tatsachen vorgelegen, die die Annahme rechtfertigten, dass der Kläger Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen würde, wie sie das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz (Asog) für längerfristige Observationen voraussetzt. Auch formell hat das Gericht Bedenken: Da die Akten von der Polizei geschwärzt waren und dem Gericht unvollständig vorgelegt wurden, konnte nicht ermittelt werden, ob die tatsächlich zuständigen Beamten die Anordnung gegeben hatten. Genausowenig, ob auch andere Ermittlungsmethoden in Erwägung gezogen wurden.

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Die schweren Straftaten, die die Polizei erwartete, konnten auch später nicht ermittelt werden. Verurteilungen habe es keine gegeben, wie der Aktivist »nd« sagt. Dafür zahlreiche ergebnislose Ermittlungs- und Strafverfahren. Eine Straftat wurde aber festgestellt: Die in der angemieteten Wohnung aufgestellte Kamera filmte Personen dabei, wie sie den Namen des Observierten mit dem Zusatz »Antifa Hurensohn« an die Hauswand sprühten. Ermittelt wird gegen Sebastian T., einen bekannten Neuköllner Neonazi, ein Strafverfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Die Observationspolitik der Berliner Polizei hat auch schon für Skandale gesorgt. Während die Observation des Klägers erfolgte, wurde am 15. Juni 2016 die Observation von Anis Amri eingestellt. Amri ermordete am 19. Dezember 2016 am Breitscheidplatz zwölf Menschen. In der Anordnung der Observation von Amri heißt es, dieser versuche offensiv, Personen als Beteiligte an islamistisch motivierten Anschlägen im Bundesgebiet zu gewinnen. Im Untersuchungsausschuss zum Attentat hatte ein Zeuge des LKA ausgesagt, dass in der zweiten Junihälfte 2016 die Beobachtung der linksextremen Szene Priorität gehabt habe – also auch die wie jetzt festgestellt rechtswidrige Maßnahme.

Verfassungsbruch seit 2016

Über die Rechtswidrigkeit der konkreten Observation hinaus gibt es erhebliche Zweifel daran, ob die gesetzliche Grundlage für Observationen in Berlin mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist. Deswegen hat die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) die Klage unterstützt. »Wir wollten diese verfassungswidrige Norm angreifen«, erklärt David Werdermann, Verfahrenskoordinator bei der GFF, gegenüber »nd«.

Die Voraussetzungen, unter denen eine längerfristige Observation nach Asog angeordnet werden könne, seien viel zu niedrig, so Werdermann. Bislang gelten dort alle Verbrechen, also rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind, als »Straftaten von erheblicher Bedeutung«, die eine längerfristige Observation rechtfertigen. Zudem soll ein bloßer Verdacht genügen, dass solche Straftaten begangen werden sollen. »Das ist zu unbestimmt und zu weit«, so Werdermann. Auch das Berliner Verwaltungsgericht sieht das so und verweist auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2016 zu im Wortlaut ähnlichen Vorschriften aus dem BKA-Gesetz.

Das Verwaltungsgericht verweist auch darauf, dass das Bundesverfassungsgericht in derselben Entscheidung geklärt hatte, dass für längerfristige Observationen eine unabhängige Vorkontrolle, etwa durch einen Richter, unverzichtbar sei. In Berlin übernimmt diese Kontrolle die Behördenleitung, also die Polizei. Dass dieser Zustand seit 2016 nicht verändert wurde, werfe kein gutes Licht auf die Berliner Politik, sagt Werdermann. »Die polizeilichen Zugriffsrechte werden immer weiter verschärft, anstatt sie auf ein verfassungskonformes Maß zu beschränken.«

Immerhin letzteres soll sich ändern. Auf nd-Anfrage teilt die Berliner Innenverwaltung mit, man werde den entsprechenden Paragrafen novellieren, »um verfassungsrechtlichen Zweifeln, wie sie das Verwaltungsgericht Berlin in seinem genannten Urteil erwähnt, zu begegnen«. Es erscheine sachgerecht, für »eingriffsintensivere Maßnahmen« eine gerichtliche Anordnungsbefugnis vorzusehen. Bis dahin wird die Berliner Polizei weiter nach der bestehenden Gesetzeslage observieren. Für Werdermann ein Skandal: »Dass der Senat das verfassungswidrige Gesetz einfach weiter anwenden will, zeugt von einer Ignoranz gegenüber den Grundrechten und dem Bundesverfassungsgericht.«

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