Zur Aktualität Leo Koflers: Ein undogmatischer Optimist

Christoph Jünke erklärt, was sich heute noch von Leo Kofler lernen lässt, und spricht über das jüngst erschienene Buch »Leo Kofler: Interventionen«

  • Interview: Sebastian Klauke
  • Lesedauer: 6 Min.
Es braucht Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Willens, schrieb Antonio Gramsci. Das passt auch zu Leo Kofler, hier zu sehen vor der Ruhr-Universität Bochum.
Es braucht Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Willens, schrieb Antonio Gramsci. Das passt auch zu Leo Kofler, hier zu sehen vor der Ruhr-Universität Bochum.

Im Karl Dietz Verlag ist soeben ein von Ihnen herausgegebener neuer Sammelband mit Texten des marxistischen Sozialphilosophen und Gesellschaftstheoretikers Leo Kofler erschienen. Was ist an diesem Band neu, welche Konzeption und Absicht liegen ihm zugrunde?

Der Band versammelt insgesamt 47 kurze Texte von Kofler, von denen 40 erstmals hier in Buchform erscheinen, wenn ich richtig gezählt habe. Das Besondere an ihnen ist in meinen Augen, dass sie im kurzen Zeitungs- und Zeitschriftenformat Beiträge zur marxistischen Theorie und Praxis bieten, die noch immer mit intellektuellem Gewinn zu lesen sind. Dies gilt für jene, die Koflers Bücher schon kennen, ebenso wie für jene, die einen Einstieg in Kofler suchen. Die Texte haben eine enorme thematische Breite und behandeln das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Arbeit und Ökonomie oder Liberalismus und Demokratie. Sie behandeln Fragen der Literatur und Ästhetik und bieten eine Analyse und Kritik sowohl des modernen Neokapitalismus wie des stalinistischen Marxismusverständnisses.

Interview

Christoph Jünke lebt und arbeitet als Publizist und Historiker für die Geschichte des roten 20. Jahrhunderts im grünen Ruhrgebiet. Er ist Vorsitzender der Leo Kofler-Gesellschaft e. V. sowie Herausgeber und Verfasser mehrerer Bücher von und zu Leo Kofler. Anfang September erscheint der von ihm herausgegebene und eingeleitete Sammelband »Leo Kofler: Interventionen. Kleine Schriften zur marxistischen Theorie und Praxis« in der Reihe Theorie beim Berliner Dietz-Verlag.

Kofler bearbeitet Grundsatzfragen wie das Verhältnis von Materialismus und Idealismus, Marxismus und Ethik oder Marxismus und Religion. Er legt auch dar, was Marxisten unter Entfremdung, Verdinglichung, Fetischismus und Ideologie verstehen, was Ausbeutung, Freiheit und was Fortschritt ist und warum der Begriff der Totalität so wichtig und zentral ist für einen kritischen Marxismus. Vor allem verdeutlichen die Texte – darin sehe ich eine besondere Originalität dieses Bandes –, dass und wie sich Kofler vor allem in den 1950er- und 1960er, aber auch noch in den 1970er und 1980er Jahren als politischer Intellektueller verstanden und versucht hat, in linke Debatten zu intervenieren. Sowohl explizit wie implizit geht es ihm hier immer auch um das komplizierte Verhältnis von Theorie und Praxis, was ja eine anhaltend aktuelle Frage ist.

Aber wie würden Sie sein theoretisches Denken und seinen politisch-intellektuellen Standpunkt charakterisieren? Was zeichnet ihn aus, auch im Vergleich mit anderen deutschen Nachkriegsmarxist*innen?

Koflers Originalität liegt in seiner Biografie begründet, über die ich an anderen Orten viel geschrieben habe. Als Kind des ostgalizischen Judentums und des »roten Wien« der Zwischenkriegszeit wurde er zuerst ein Schüler des linkssozialdemokratisch-linkssozialistischen Austromarxisten Max Adler und dann, im Schweizer Exil, von Georg Lukács. Unter den historischen Bedingungen des antifaschistischen Kampfes der dreißiger und vierziger Jahre machte Kofler hieraus eine theoriegeschichtlich originelle Mischform von »westlichem Marxismus« und »sozialistischem Humanismus«, die es so nur selten gibt. Dieser sozialistische Humanismus und vor allem Koflers daraus abgeleitetes Verständnis eines humanistischen Menschenbildes und einer marxistischen Anthropologie findet sich übrigens auch in den Texten dieses Bandes. Anders als die meisten deutschen Nachkriegsmarxisten wie Theodor W. Adorno und andere Vertreter der »Frankfurter Schule«, anders und tiefer aber auch als Ernst Bloch, Wolfgang Abendroth oder Wolfgang Harich, hat Kofler die Grundlagen einer marxistisch verstandenen philosophischen Anthropologie entfaltet. Diese vermeidet die Einseitigkeiten eines nur kulturwissenschaftlich oder nur kulturkritisch verstandenen »westlichen Marxismus« oder die Einseitigkeiten des östlichen Marxismus-Leninismus.

Diese theoretische Originalität hängt mit Koflers politisch-intellektueller Originalität eng zusammen. Er war, auch wenn es die späteren »68er« selbst zumeist kaum wahrhaben wollten, ein intellektueller Vater der »68er«-Revolte. Das heißt, er hat bereits in den fünfziger Jahren eine umfassende Kritik am gesellschaftspolitischen Integrationsprozess der Sozialdemokraten und Gewerkschafter geübt und diese Kritik mit einer nicht minder scharfen Kritik des kommunistischen Stalinismus in Theorie und Praxis verbunden. So kam er dazu, in der zweiten Hälfte dieser fünfziger Jahre seine Theorie einer progressiven, humanistischen Elite als dritter linker Kraft zwischen und jenseits der beiden linken Hauptströmungen zu entwickeln. Damit hat er nicht nur die spätere Neue Linke vorweggenommen. Er war mehr noch ein führender Aktivist von deren schon in den Fünfzigern vorhandenen, gleichsam ersten Generation, zusammen mit Viktor Agartz, Fritz Lamm, Gerhard Gleissberg und manchen anderen.

Sie haben über diese historischen Zusammenhänge ausführlicher in der Einleitung zu dem neuen Band geschrieben.

Ja. Und ich denke, dass sich hieraus auch ein Gutteil der Aktualität der Texte und von Koflers Wirken erklärt. Die Kritik, die er in den Fünfzigern am »ethischen Sozialismus« der damaligen SPD-Vordenker kritisiert hat, hat wenig an seiner Aktualität verloren – nur finden wir diesen ethischen Sozialismus heute in anderen Strömungen. Und das, was er in einem Artikel des Bandes wunderbar als »orthodoxes Pfaffentum« auseinandernimmt, ist ja nichts anderes als der noch heute bei nicht wenigen Linken anzutreffende Philo-Stalinismus. Da hat sich leider nicht so viel verbessert auf Seiten der deutschen Linken. Übrigens gilt dies auch für die Neue Linke selbst. Kofler hat es sich nicht nehmen lassen, diese politisch-intellektuelle Strömung in ihrer ganzen immanenten Widersprüchlichkeit kritisch darzustellen. Auch dies finden wir in dem nun vorliegenden Band.

Und an diesen Grundkonstellationen hat sich danach nicht viel geändert. Auch in der heutigen progressiven Linken gibt es ausgesprochen vielfältige, zum Teil gar antagonistische Strömungen. Hier findet sich ebenfalls ein mal subtiler, mal offener Kampf zwischen, wie Kofler sagen würde, humanistischen Strömungen und nihilistischen Strömungen. Unter Nihilismus, muss man dazu sagen, verstand er das, was man heute den anti-politischen Zynismus vieler Linker nennen müsste.

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Das klingt jetzt nicht gerade sehr aufbauend.

Mag sein. Aber Kofler selbst war ja ein unverbesserlicher Optimist und setzte auf die Lernfähigkeit und die Lernwilligkeit der Menschen.

Wäre das auch der Punkt, den man in der aktuellen Krise der Linken von ihm lernen kann oder soll?

Ich weiß nicht, ob man seinen Optimismus wirklich lernen kann – er würde das sicherlich bejahen. Aber lernen lässt sich von ihm sein undogmatisches und produktives Marxismusverständnis. Lernen lässt sich auch, dass marxistische Theorie und sozialistische Praxis immer vielfältig und plural waren und in vielem ganz und gar nicht jenes Zerrbild darstellten, das auch heute wieder so viele malen.

Können Sie dies an einem Beispiel verdeutlichen?

Das noch immer so verheerend wirkende Marxismusverständnis des Marxismus-Leninismus habe ich ja schon erwähnt und auch an anderen Orten thematisiert. Aktueller noch ist meines Erachtens die Diskussion über die ökologische Herausforderung und die angeblichen Versäumnisse der historischen Linken. Natürlich gab und gibt es auf der politischen und gesellschaftlichen Linken, um es plakativ zu sagen, viele Ignoranten. Doch immer finden wir jene Einzelnen und kleinen Gruppen, die schon früh, sehr früh, andere Wege gegangen sind, auch in der ökologischen Frage. Dass ein »westlicher Marxismus«, der vor allem auf die Gesellschaft und ihre Kultur schaut, seine Probleme mit Fragen von Natur und Ökologie hatte und hat, ist schon häufig thematisiert und kritisiert worden. Und auch Kofler hatte kein gutes Gespür für die Ökologie als solche. Aber er hatte ein sehr feines Gespür für die menschliche Natur als Teil der Weltnatur, und nicht zuletzt hier hat er uns – meines Erachtens – viel zu geben. Die heute wieder gern und oft zitierte Weisheit, dass wir Menschen Kultur nur aufgrund unserer Natur haben entwickeln können, ist Grundlage auch jeder emanzipativen Ökologie. Diese Thematik hat Leo Kofler bereits in den fünfziger Jahren entfaltet. Auch da war er ein Pionier, den zu vergegenwärtigen sich wirklich lohnt.

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