- Kultur
- Geschichte der Schwulenbewegung
Von Schreien, Schweigen und stillbarer Sehnsucht
Friedens- und Queeraktivist Lutz van Dijk erinnert sich an die ihn prägende Kindheit
Es gibt auch ehrliche Lügen. Das ist dann die Wahrheit. Kapierst du das, Jan?« Kein Wort kapiert der deutsche Bub, zu dessen ersten Freunden in einer Schule im Nachkriegsberlin-West der derart philosophisch-sinnierende Junge Oleg aus Russland gehört, der nicht Stulle oder Bemme sagt, sondern Brot. Nicht von ungefähr, haben doch Handwerker und Unternehmer dereinst aus deutschen Landen das Wort »Butterbrot« ins Reich der Zarin Katharina der Großen gebracht.
Jan weiß, dass in Russland die Menschen hungern. Folge des verbrecherischen Überfalls Deutschlands. Auch Berlin ist noch von Ruinen gezeichnet, für die Kinder Abenteuerspielplätze, nicht ungefährlich und fatal verlockend. Sie spielen Krieg zwischen den Trümmern. Und da ist noch der alte Geist, der fortlebt in Kinderhirnen, durch Gespräche der Erwachsenen am Küchentisch implantiert: »Wer gegen die Russen kämpft, ist gut, weil die immer angreifen. Da muss man auf der Hut sein.«
Es gibt auch viele Flüchtlinge in der Stadt an der Spree. Ebenfalls Folge vormaliger nationaler Hybris. »Sie kommen mit etwas Gepäck auf dem Rücken, manchmal nur in eine Decke gewickelt. Das ist alles, was sie haben. Gelaufen kommen sie.«
Jetzt sagen die Deutschen: »Krieg ist schlecht.« Alle, die Jan kennt, sagen das. Seine Mutter und sein Vater, die blinde Oma Elli, Opa Hans und Oma Maria. Der Vater hat den Krieg mitmachen müssen. Deshalb weiß er auch, dass das ärmliche Viertel in Lankwitz, in dem die Familie wohnt und das Mau-Mau-Siedlung genannt wird, seinen Namen nicht dem beliebten Kartenspiel verdankt. Der aus britischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Vater klärt auf, dass die Mau Mau ein Stamm in Afrika waren, der sich gegen das britische Kolonialjoch erhoben hat. »Da ist auch nur Chaos. Und Elend. Und Gewalt.«
Lutz van Dijk bietet ein fein ziseliertes, feinfühliges Panorama einer Zeit, die uns heute so fern erscheint und doch noch so nah ist.
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»Wir waren arm, aber nicht bettelarm«, resümiert der Ich-Erähler. »Wir Kinder hungerten nie und hatten immer was anzuziehen.« Jan trägt die Kleidung seines älteren Bruders Harald auf, wie es früher hieß. Vater und Mutter drehten jeden Pfennig dreimal um, bevor sie sich selbst etwas kauften. Die Mutter stopfte und flickte Socken, Hosen, Hemden. »Es gab kein Auto, keine Urlaubsreisen, auch keinen Fernseher … Manchmal gab es drei Tage lang denselben Eintopf, am Ende mit Wasser verlängert«, erinnert sich Jan, das Alter Ego des Lutz van Dijk.
Der 1955 in Berlin-West geborene deutsch-niederländische Lehrer und emsige Buchautor hat seine Kindheitserinnerungen aufgeschrieben. Und diesen ein Gedicht aus eigener Feder vorangestellt: »Obwohl der Krieg endlich vorbei ist./ Jedenfalls der mit Bomben und Bunkern./ Oder gibt es weiterhin Krieg in den Erwachsenen?/ Mühsam verborgen, verschwiegen./ Hinter brüchigen Fassaden./ So viel Schreien um mich herum./ Dann wieder tagelanges Schweigen./ Schweigen und Schreien./ Schreien und Schweigen./ Gab es nichts anderes?« Doch. »Unsere sprachlose Sehnsucht nach Liebe.«
Um die Liebe in einer lieblosen Welt im Großen wie im Kleinen geht es vor allem im autobiografischen Roman des Lutz van Dijk. Aufgewachsen in einem zerstrittenen Elternhaus (einmal nimmt die Mutter gar Reißaus, um dann doch wieder pflichtbewusst zu den Kindern und dem streitsüchtigen Ehemann zurückzukehren), entdeckt Jan früh, dass er sich zu Jungs hingezogen fühlt. Lisas liebliche Offerten rühren ihn an, der erste Kuss, den er von ihr empfängt, ist angenehm, aber nicht aufregend.
Mit Anton ist es etwas anderes. Die erste große Liebe des Teenagers. Heimliche, prickelnd-erregende Treffen im Keller ihres Hauses. Der erste Sex. Eine unschuldige Liebe, die ihm viel zu früh entrissen wird, da Anton an einer Knochenerkrankung leidet und in ein Sanatorium weit weg in Westdeutschland geschickt wird. Nach Jahren des Schweigens erreicht Jan ein Brief von Anton, in dem dieser mitteilt, dass er einen neuen Freund gefunden hat. Eine Enttäuschung von vielen.
In Berlin-West, und nicht nur dort, herrscht allgemeine Schwulenfeindlichkeit. Noch ist der Paragraf 175 mit NS-Konation in Kraft. »Schwul« ist ein Schimpfwort, schon von den Kindern alltäglich strapaziert. Mitschüler, die in den Verdacht gleichgeschlechtlicher Zuneigung geraten, werden gejagt und vertrimmt. Sogar von vermeintlichen oder eigentlichen Freunden.
Und viel brauner Ungeist wabert noch durch die Gesellschaft. Lutz van Dijk, der an der Universität Hamburg seine Dissertation zu nicht gerade weitverbreitetem oppositionellen Verhalten von Lehrern während der NS-Zeit verteidigte und seitdem viele Bücher über die Verfolgungsgeschichte von Juden und Homosexuellen unterm Hakenkreuz verfasst hat – und auch eine bemerkenswerte Würdigung des 17-jährigen Herschel Grynszpan, der am 7. November 1938 ein Attentat auf den deutschen Legationsrat Ernst vom Rath in Paris verübte, Vorwand für die sogenannte Reichskristallnacht –, berichtet von einem Vorfall an seinem, dem Beethoven-Gymnasium. Darüber informierte damals gar das Fernsehen, die »Berliner Abendschau«. Der Schuldirektor, Oberstudienrat Zawonski, ein alter Nazi, wird frühzeitig in Pension geschickt wird, nachdem ihm mal wieder im Unterricht »die Hand ausgerutscht« ist. Ein Schüler der 11. Klasse hatte sich das diesmal allerdings nicht gefallen lassen und es diesem mit gleicher Münze heimgezahlt.
Historische Zäsuren werden reflektiert. Am Tag des Mauerbaus beginnt die Mutter aus Angst vor einem erneuten Krieg die Koffer zu packen; die Familie trägt sich mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern. Es kommt nicht dazu. »Wir leben jetzt auf einer eingemauerten Insel«, konstatiert der Vater, Bereitschaftspolizist (»Bepo«) wider Willen; er hätte lieber als Goldschmied gearbeitet. Wenn der Fußball der Kinder über die Mauer in den Osten fliegt, ist er weg. Für immer. »Westberlin als Rest-Berlin«, sagt der Vater. Als nächstes »Weltereignis« notiert Jan den Besuch des US-Präsidenten John F. Kennedy in Westberlin zwei Jahre später (»Ich bin ein Berliner!«) und dessen Ermordung kurz darauf.
Politisch sensibilisiert wird Jan durch seinen Mitschüler, Martin, Sohn eines US-amerikanischen GIs. Durch ihn erfährt er von der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Martin nimmt Jan auch zu dessen erster Demonstration mit, zur Unterstützung des Hungerstreiks eines politischen Gefangenen in Moabit. »Auch Gefangene haben Rechte, egal, ob schuldig oder nicht«, erklärt Martin. »Natürlich sage ich daheim kein Wort«, gesteht der Autobiograf. Denn der »Bepo«-Vater steht auf der anderen Seite. Die Situation eskaliert. Es fliegen Eier und Pflastersteine, die Polizei geht rabiat mit Prügelstöcken und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor.
Martin ist es auch, der im Gegensatz zu vielen anderen volles Verständnis für Jans sexuelle Orientierung zeigt und ihm zu dessen 16. Geburtstag ein Taschenbuch schenkt, »Giovannis Zimmer« des Afroamerikaners James Baldwin. »Eine traurige Geschichte um zwei weiße Schwule in Paris. Viel Drama, viel Angst und Lügen.«
Seinen Oleg, trifft Lutz van Dijk, der sich seinen Kindheitstraum – »Irgendwann die weite Welt« – erfüllte und heute in Amsterdam und Kapstadt lebt, Jahrzehnte später bei einem Berlin-Besuch wieder, »rein zufällig, in der Nähe vom Bahnhof Zoo. Da hockt er neben einer Mülltonne. Zuerst erkenne ich ihn nicht.« Der Freund aus Kindheitstagen ist fast kahlköpfig, in einer Hand eine Bierbüchse, er wirkt verlebt. Dessen Anblick schmerzt den Autobiografen, hatte er doch dereinst für Oleg, der von seinem Vater missbraucht worden war, wie ein junger Löwe gekämpft, sich nicht damit zufriedengeben wollen, dass das Vergehen ungesühnt bleiben sollte, aber anfangs niemand, auch Lehrer nicht, einzuschreiten gewillt schien.
Lutz van Dijk bietet ein fein ziseliertes, feinfühliges Panorama einer Zeit, die uns heute so fern erscheint und doch noch so nah ist. Der in der Friedens- und der Schwulenbewegung engagierte Autor reflektiert die Jahre einer im Kalten Krieg erstarrten und vom Atomtod bedrohten Welt, Jahren, in denen aber auch mit Studentenrevolte und sexueller Revolution, Anti-Vietnamkrieg-Protesten und antikolonialem Kampf die Saat für spätere grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen gelegt wurde: für gleiche Rechte aller Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht, ihrer sozialen Herkunft und sexuellen Orientierung.
Und er hatte daran seinen Anteil: Lutz van Dijk, der an internationalen Friedenskongressen unter anderem in Budapest, Kopenhagen und Paris teilgenommen und zur Millenniumswende in einem Township bei Kapstadt Hokisa (Homes for Kids in South Africa) mitbegründet hatte, eine Organisation, die sich um Kinder und Jugendliche kümmert, die ihre Eltern durch AIDS verloren haben oder selbst infiziert sind. Für seinen unermüdlichen Einsatz gebührt Lutz van Dijk Dank und Respekt. Auch die erste Gedenkveranstaltung für die unter der Hitlerdiktatur verfolgten und ermordeten Homosexuellen im Deutschen Bundestag vergangenes Jahr verdankt sich seiner Initiative. Umso mehr sei seinem bewegenden, beeindruckenden Kindheitsroman eine aufmerksame Leserschaft gewünscht. Und dem Autor viel Kraft in seinem Kampf gegen seine Parkinson-Erkrankung.
Lutz van Dijk: Irgendwann die weite Welt. 216 S., kart., 16 €.
Lesungen des Autors: 3.9., 20.30 Uhr, Buchhandlung Eisenherz, Motzstraße 23, 10777 Berlin; 5.9., 20 Uhr, Switchboard, Alte Gasse 36, 60313 Frankfurt/Main; 9.9., 20 Uhr, Buchsalon Köln-Ehrenfeld, Wahlenstraße 1, 50823 Köln; 12.9., 19.30 Uhr, Buchhandlung Löwenherz, Berggasse 8, 1090 Wien (auch via Zoom); 18.9., 19 Uhr, Buchpalast, Kirchenstraße 5, 81675 München.
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