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Erziehung in Berlin: Sprachstörungen bei Kindern nehmen zu
Mehr als jedes zehnte Kind in der Hauptstadt weist Sprachentwicklungsstörungen auf – auch wegen undurchdachten Medienkonsums
Wiederholtes Stottern, falsche Aussprache, zu kleines Vokabular: Sprachentwicklungsstörungen bei Berliner Kindern nehmen stetig zu. Das belegen neue Hochrechnungen der Krankenkasse Barmer, die eigene Kund*innendaten ausgewertet hat. Insgesamt 72 900 Kinder unter 15 Jahren wurden demnach 2022 in der Hauptstadt mit einer Sprachentwicklungsstörung ärztlich diagnostiziert. Das entspricht einem prozentualen Anteil von 13,5 Prozent.
Seit 2012 sind die Werte damit um rund 32,4 Prozent gestiegen. Die negative Entwicklung lässt sich in ganz Deutschland beobachten. Im bundesweiten Vergleich bewegt sich Berlin im unteren Drittel, was behandelte Kinder angeht. Verhältnismäßig häufig betroffen ist laut Barmer das männliche Geschlecht. Während vier von 100 Mädchen eine logopädische Behandlung erhielten, waren es bei den Jungen sechs von 100.
»Mit Kindern wird leider weniger gesprochen als früher«, sagt Renata Oehlgardt zu »nd«. Seit 27 Jahren ist die gebürtige Brasilianerin als Logopädin in Deutschland tätig, sie betreibt eine Praxis in Charlottenburg-Wilmersdorf und eine weitere am Gleisdreieckpark. Den Anstieg der Behandlungszahlen erklärt sich die Logopädin einerseits mit gestiegener Anerkennung sprachlicher Entwicklungsstörungen, andererseits mit dem Erziehungsstil der Eltern. Diese bauen in ihrer Erziehung zunehmend auf audiovisuelle Medien. »Das Kind sitzt da und guckt mit offenem Mund auf die bunten Bilder im Bildschirm, aber es bekommt nur Input«, sagt Oehlgardt. Um eine Sprache zu lernen, müsse man sie auch wirklich erleben – also aktiv sprechen.
»Mit zwei Jahren sollte ein Kind etwa 50 Wörter beherrschen, egal ob auf einer Sprache oder über mehrere Sprachen verteilt.«
Renata Oehlgardt Logopädin in Berlin
Wichtig sei es, sprachliche Entwicklungsstörungen möglichst frühzeitig zu erkennen. Und das gerade in Berlin: Der Fachkräftemangel treffe auch Logopäd*innen, überall fehle es an Therapieplätzen. »Wer ein halbes Jahr vor Einschulung Probleme bemerkt, wird es schwer haben, noch rechtzeitig etwas zu finden«, sagt Oehlgardt. Für ihre Praxen suche sie seit zwei Jahren durchgehend nach neuem Personal. Der Beruf müsse attraktiver und besser bezahlt werden. »Wir tragen unglaublich viel Verantwortung und die tägliche Arbeitsbelastung ist hoch.«
Auch Berliner Kitas müssten dringend mit ausreichend Personal ausgestattet werden, so die Logopädin. Als wichtige Maßnahme lobt sie die Einführung des sogenannten Sprachtagebuchs. In diesem sollen Erzieher*innen seit 2006 gemeinsam mit dem Kind Lernfortschritte im Sprachgebrauch festhalten. Um die Entwicklung der Kinder zu dokumentieren, sagt Oehlgardt, eigne sich das Sprachtagebuch hervorragend – wenn es denn genügend Fachkräfte zur Betreuung gibt.
Für Erziehende hat die Logopädin eine Faustregel parat: »Mit zwei Jahren sollte ein Kind etwa 50 Wörter beherrschen, egal ob auf einer Sprache oder über mehrere Sprachen verteilt.« Wenige Monate später lernen Kinder, ganze Sätze zu bilden. Hier sei es unter anderem wichtig, auf den Wortschatz zu achten. »Mit vier Jahren sollte ein Kind ein Auto schon ›Auto‹ und nicht ›Dingsda‹ nennen können.«
Das gelte auch mit Hinblick auf Bilingualität: Viele Eltern versprechen sich zu viel davon, das eigene Kind beispielsweise nur noch englischsprachiges Fernsehen schauen zu lassen. Probleme zeigten sich auch, wenn ein Elternteil mit seinem Kind nur in einer Sprache spreche, die es selbst aber nicht auf muttersprachlichem Niveau beherrsche. »Bilinguale können sich besser entfalten, wenn erstmal eine Sprache gut sitzt.«
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