Afghanistan: Abschiebungen in die Menschenrechtshölle

Das neue Tugend-Gesetz macht das Leben in Afghanistan für Frauen unlebbar

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 6 Min.
Taliban-Sicherheitskräfte stehen Wache, während eine afghanische Frau in Burka auf einem Markt im Bezirk Baharak in der Provinz Badakhschan eine Straße entlangläuft.
Taliban-Sicherheitskräfte stehen Wache, während eine afghanische Frau in Burka auf einem Markt im Bezirk Baharak in der Provinz Badakhschan eine Straße entlangläuft.

Die Stimmung war gut beim sogenannten Migrationsgipfel in Berlin: Da sah man Niedersachsens Ministerpräsidenten Stephan Weil auf dem Weg ins Bundesinnenministerium mit den Kollegen scherzen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser dankte »für das ernsthafte und konstruktive Gespräch« zwischen Regierungskoalition, der CDU/CSU-Opposition und den Ministerpräsidenten. Durch die Berliner Politik geistert schon das Zauberwort »Zeitenwende«, nun angewandt auf ein anderes Politikfeld. Man muss kein Sternendeuter sein, um davon auszugehen, dass die Parteien sich auf eine Verschärfung in der Migrations- und Asylpolitik einigen werden: Zurückweisungen an den deutschen Grenzen, Entzug der Staatsbürgerschaft, Deportierung von Geflüchteten auch in unsichere Staaten, wo gefoltert wird. Alles gesetzlich geregelt und fein justiert, wie es sich für einen Rechtsstaat gehört.

Dabei ist die Lage völlig klar: »Die beschlossenen asylpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung sind Schaupolitik in Wahlkampfzeiten, die klar gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen«, erklärte Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, nachdem am 30. August der erste Abschiebeflug von Leipzig aus nach Afghanistan abgehoben hatte. Sie erinnerte daran, dass Menschenrechte auch für Straftäter gelten und dass »niemand« in ein Land abgeschoben werden dürfe, wo Folter drohe. »Niemand ist in Afghanistan sicher. Außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwindenlassen und Folter sind an der Tagesordnung.«

Taliban lassen öffentlich hinrichten

Rund 5000 Kilometer weiter südöstlich des deutschen Rechtsstaats erfolgt der Strafvollzug mit der Peitsche. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, was eigentlich alle geahnt hatten: Mutmaßliche Straftäter werden in Afghanistan wieder ausgepeitscht. Im konkreten Fall vier Personen, die wegen angeblicher rechtswidriger sexueller Handlungen zu 39 Peitschenhieben und Gefängnis verurteilt worden seien, gab das Oberste Gericht bekannt. Was erwartet also die aus Deutschland abgeschobenen Straftäter? Medienberichten zufolge sollen sie in das berüchtigte Pol-e Tscharkhi-Gefängnis am Stadtrand von Kabul eingesperrt worden sein. Die Haftbedingungen dort beschreiben Menschenrechtsorganisationen mit einem Wort: unmenschlich.

Die Taliban führten nach ihrer Rückkehr an die Macht in Afghanistan im August 2021 trotz Kritik von Menschenrechtsorganisationen und den Vereinten Nationen wieder öffentliche Strafen ein, darunter Hinrichtungen und Auspeitschungen für Verbrechen wie Mord, Raub und Ehebruch. Seitdem wurden fünf wegen Mordes verurteilte Männer öffentlich hingerichtet.

»Es ist eine beunruhigende Vision für die Zukunft Afghanistans.«

Rosa Otunbajewa
UN-Sondergesandte für Afghanistan

Die Menschenrechtslage in Afghanistan wird von Tag zu Tag schlechter, das bekommen insbesondere Frauen und Mädchen zu spüren, deren Rechte systematisch beschnitten und die auf Schritt und Tritt kontrolliert werden. Die frauenfeindlichen Maßnahmen der Taliban könnten laut Amnesty International möglicherweise als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden.

Nicht nur, dass Mädchen von der höheren Schulbildung ausgeschlossen werden, eine Vorschrift, die seit März 2022 gilt und besagt, dass Mädchen ab der 6. Klasse genug gelernt hätten für ein Leben im Emirat Afghanistan. Die Taliban hätten überhaupt kein Interesse daran, dass Frauen zur Schule gehen, sagte seinerzeit gegenüber »nd« Frauenrechtsaktivistin Hoda Khamosh, »dann würden die Frauen nämlich verstehen, welche Rechte sie haben«.

Tugend-Gesetz verbietet Frauen zu singen

Aber es geht noch schlimmer: Am 21. August veröffentlichten die Taliban-Machthaber das »Gesetz über die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern«. Es sieht strenge Beschränkungen für das Aussehen, das Verhalten und die Bewegungsfreiheit von Frauen vor. Demnach müssen Frauen in der Gegenwart von Männern, die nicht mit ihnen verwandt sind, Gesicht und Körper verhüllen. Die Stimme einer Frau sei intim, verboten ist ihnen daher auch das Singen, laute Lesen oder rezitieren in der Öffentlichkeit. In Reaktion auf diese Vorschriften veröffentlichten afghanische Frauen im In- und Ausland Videos online, auf denen sie singen, veröffentlicht unter Hashtags wie »Meine Stimme ist nicht verboten« und »Nein zu den Taliban«.

Das Gesetz schreibt zudem vor, wenn Frauen das Haus verlassen, müssen sie von einer männlichen Aufsichtsperson begleitet werden und dürfen öffentliche Verkehrsmittel nicht ohne einen männlichen Begleiter benutzen. Männern schreibt das Gesetz Bart- und Hosenlänge vor. Auch Homosexualität und Musik in der Öffentlichkeit sind verboten, ebenso das Feiern nicht islamischer Feiertage wie das weit verbreitete iranische Neujahrsfest Nouruz.

Sittenpolizei soll im ganzen Land kontrollieren

Die sogenannte Sittenpolizei der Taliban ist für die Durchsetzung des Gesetzes zuständig. Die Polizisten sollen die Einhaltung der Vorschriften im ganzen Land überwachen und bei Verstößen Verwarnungen aussprechen. Wiederholungstäter können inhaftiert, mit Geldstrafen belegt und sogar ihr Eigentum beschlagnahmt werden.

»Ich befürchte, dass afghanische Frauen nicht mehr zu ihrer Arbeit gehen können«, sagte eine Frau, die nicht namentlich genannt werden möchte, gegenüber Radio Azadi, afghanischer Ableger des US-Mediums Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL). Die Frau ist Alleinverdienerin und muss eine 10-köpfige Familie ernähren. Sie ist besorgt, dass das neue Moralgesetz die wenigen Rechte, die Frauen noch haben, aushöhlen wird.

Uno sorgt sich um Afghanistans Zukunft

Besorgt zeigen sich auch die Vereinten Nationen: »Es ist eine beunruhigende Vision für die Zukunft Afghanistans«, sagte die UN-Sondergesandte für Afghanistan, Rosa Otunbajewa. Das Gesetz erschwere jede Bemühung der internationalen Gemeinschaft, einen Umgang mit den Taliban zu finden, die seit August 2021 wieder an der Macht sind. Bereits in der Vergangenheit machte die sogenannte Sittenpolizei ähnliche Vorgaben, bisher sind in Städten wie Kabul jedoch noch Frauen ohne männliche Begleitung und mit unverhülltem Gesicht auf der Straße zu sehen.

Der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Afghanistan, Richard Bennett, ist am Montag nach eigenen Angaben in Katar eingetroffen, um mit »verschiedenen Gruppen« afghanischer Männer und Frauen sowie mit Regierungsvertretern über die Lage in Afghanistan zu sprechen. Erst kürzlich haben die Taliban die Einreise nach Afghanistan verweigert und ihn beschuldigt, »Propaganda zu verbreiten«.

Keine Kooperationsbereitschaft

Wie wenig kooperationsbereit die Taliban sich zeigen und wie entschlossen sie an ihrer repressiven Politik gegenüber Frauen und Mädchen festhalten zeigt sich am zunehmenden Konfrontationskurs, den sie auch im Umgang mit UN-Organisationen einschlagen. So will die sogenannte Moralpolizei der Taliban-Regierung eigenen Angaben zufolge nicht mit der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (Unama) kooperieren. Aufgrund der »fortgesetzten Propaganda« werde das Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern »ab sofort keine Unterstützung für oder Zusammenarbeit mit der Unama leisten«.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.