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Kretschmer geht auf Wagenknecht zu
Vor Sondierung von CDU und BSW: Sachsens Regierungschef reiste zu Parteichefin nach Berlin
Es ist nicht bekannt, wo Sahra Wagenknecht den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer in Berlin empfangen hat. Würde die Gründerin der nach ihr benannten Partei BSW über einen Sinn für Ironie verfügen, hätte sie Räume am Werderschen Markt gewählt. Dort saß bis 1989 das Zentralkomitee der SED. Unter Hinweis auf die Rolle von dessen innerstem Führungsgremium hatte Kretschmer noch im Wahlkampf das BSW und dessen hierarchische Struktur kritisiert: »Die Zeiten vom Politbüro sind vorbei, wo jemand in Berlin entscheiden konnte, was vor Ort passiert.«
Das freilich ist Geschwätz von gestern. Am Montag war Kretschmer bei Wagenknecht in Berlin, um zu besprechen, was vor Ort, konkret: in Sachsen, passieren kann. Im Anschluss wurde vermeldet, beide hätten die politische Lage im Freistaat besprochen sowie neue Möglichkeiten direkter Demokratie und die Corona-Aufarbeitung. Auch um Landes- und Außenpolitik sei es gegangen. In den sozialen Medien erntete der sächsische CDU-Mann Spott und Häme für seine Reise in die Hauptstadt. Er habe »als Bittsteller zur großen Parteivorsitzenden nach Berlin fahren« müssen, ätzte Paula Piechotta, grüne Bundestagsabgeordnete aus Leipzig. Unter Anspielung auf frühere Äußerungen Kretschmers fügte sie an: »Und ich dachte, wir lassen uns in Sachsen nicht aus dem Saarland regieren.«
Kretschmer freilich hat wenig Alternativen, als auf Wagenknecht zuzugehen. Zwar verfügt seine Partei nach dem knappen Sieg bei der Landtagswahl am 1. September über zwei Optionen, um die angepeilte »stabile Regierung« zu bilden, ohne mit der AfD gemeinsame Sache zu machen. Rechnerisch möglich wäre ein Viererbündnis aus CDU, SPD, Grünen und Linken, dem aber zum einen ein Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linken und zum anderen tiefgreifende Antipathien zwischen den bisherigen Koalitionspartnern CDU und Grüne entgegenstehen. Deren Fraktionschefin Franziska Schubert hatte jüngst wegen Kretschmers permanenter Attacken auf ihre Partei erklärt, es sei eine »Entschuldigung« fällig.
Jenseits dessen bleibt nur eine Koalition mit der SPD und dem BSW, das in Sachsen aus dem Stand auf 11,8 Prozent kam und 15 Abgeordnete stellt. Dort ist man sich der starken Verhandlungsposition bewusst und stellt Bedingungen. Eine davon: Bevor in den Ländern – neben Sachsen auch in Thüringen, wo die Lage für die CDU noch verzwickter ist – zu einer möglichen Regierungsbildung sondiert wird, muss es Gespräche mit der Parteichefin geben. Dem kam Kretschmer nun nach. Erst danach kann im Land geredet werden.
Dass die sächsische CDU sich überhaupt auf Gespräche mit Wagenknechts Partei einlässt, stößt namhaften Politikern der Partei sauer auf. Der Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter erklärte, solche Gespräche hätten »keinen Sinn«. Man müsse begreifen, dass das BSW ein »Retortenbaby von Putin« sei. Nach Ansicht von Rupert Polenz, einst Generalsekretär der Partei und Chef des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, steht das BSW »eigentlich gegen alles, was man als die DNA der CDU bezeichnen kann«. Er nannte etwa die Westbindung der Bundesrepublik und das Bekenntnis zu einer starken Europäischen Union. Polenz verwies auf eine inhaltliche Nähe von BSW und AfD und sagte: »Wenn es keine andere Lösung gibt, müssen die eben regieren.«
Die CDU-Spitzen in Sachsen wollen ein solches Szenario unbedingt verhindern, einerseits, um die erwiesen rechtsextreme AfD von der Macht fernzuhalten, andererseits, um sich selbige weiterhin zu sichern. Der frisch im Amt bestätigte sächsische CDU-Fraktionschef Christian Hartmann sagte, man brauche »keine Hinweise und Anregungen aus der Komfortzone anderer Bundesländer oder des Bundes«. Rückhalt kommt jetzt von Bundesparteichef Friedrich Merz. Auch dieser warnte in der Bundestagsfraktion vor »Ratschlägen von der Seitenlinie« und warb um Vertrauen in die Verhandlungsführer in den Ländern.
In Sachsen sollen nun in den kommenden Tagen Gespräche zwischen CDU und BSW beginnen. Außerdem stehe auch die SPD für »Kennenlerngespräche« bereit, sagte deren Landeschef Henning Homann. Seine Partei hatte sich vor der Wahl äußerst ablehnend über das BSW geäußert und ein Bündnis dieser Partei und der CDU als eine »aus dem Saarland ferngesteuerte Regierung« und »Katastrophe für Sachsen« bezeichnet. Auch am Tag nach der Wahl betonte Homann, man stehe dem BSW »extrem skeptisch« gegenüber, weil dessen Kurs völlig unklar sei. Schon da räumte er aber auch ein, dass es »nicht viele Optionen« gibt. Das weiß auch Kretschmer – der, um sich die wahrscheinlichste davon nicht zu verscherzen, sogar nach Berlin fuhr.
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