Friedrich Schorlemmer: Zorn und Zuwendung

Zum Tod des Pfarrers, Bürgerrechtlers und Publizisten Friedrich Schorlemmer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Er hatte eine Freiheit im Blick ...
Er hatte eine Freiheit im Blick ...

In jedem wirklichen Gespräch entdecken Beteiligte ein wahrhaft schönes Erlebnis. Nämlich: navigationsfähig zu sein in Problemräumen. Wann immer man Friedrich Schorlemmer begegnete, erlebte man Energie. Fühlte im Austausch, wie erhebend Überforderung sein kann. So viel Deutungsrausch bei diesem Pfarrer und Prediger und Bürgerrechtler und Lebenserzähler.

Schorlemmer war Methodiker; er wusste in seiner theologischen Arbeit um die ordnende Kraft der Systematik, aber das Erbauliche an Gesprächen mit ihm war das Wandern durch Labyrinthe, und an keinem Abzweig obsiegte die Angst vor Ermüdung. Gott, Jesus, Glaube, Poesie, Musik, Politik, Glück, Zweifel, Natur, Ewigkeit, Vergänglichkeit – Vergänglichkeit, Ewigkeit, Natur, Zweifel, Glück, Politik, Musik, Poesie, Glaube, Jesus, Gott. Hin und zurück, zurück und seitwärts, jedes Einwärts ein Grundwärts. Heiter aufwärts ins Bodenlose.

Der Themenpark immerfort als Wildnis: Spürweg und Schneisenschlag, Pfadsuche und Unwegsamkeit, Lichtung und Umdunkeltes, Umkreisung und Neuansatz. Beglaubigt durch Gott? Er zuckte die Schultern: Wie das benennen, was man nicht fassen kann, weil es einen erfasst? Auferstehung war ihm ein Aufstehen, lebenslang, vor dem Tod. Dem Tod aus Gleichgültigkeit und Gier und herzloser Gewöhnung.

Dieser Pfarrer, das war Zorn, dem Güte nicht verloren ging. Das war Freundlichkeit, die nicht winselte und wedelte. Leben gelang diesem Seelsorger vor allem als Arbeit gegen jene Ellenbogenschützen, die zielsicher die Unterbietung des Menschen durch den Menschen betreiben. Indem sie den Menschen nur noch dort feiern, wo er unumkehrbar Kunde, Konkurrent, Knecht wird.

Den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels (1993) peinigte, dass es in der gesellschaftlichen »Einbahnstraße der Anpassung« schwierig blieb, Westdeutschen über den Osten eines klarzumachen: »In der Nische wurde nicht nur Schweinefleisch gebrutzelt.« Schorlemmer hatte nicht deshalb so vehement gegen die SED-Macht gestritten, um dann im Westen lediglich in eine nachholende Umschulung für den Status quo zu geraten. Anschluss? Aufbruch! Bananen und Mallorca unbedingt, aber nicht diese Umkehr der Evolution: vom »Training des aufrechten Ganges« (Volker Braun) »vorrückwärts« an die Nabelschnur der Kaufhausketten.

Aufklärung als Selbstforschung, nicht zuvörderst als Erziehung anderer. Das unterschied Friedrich Schorlemmervon vielen Linken.

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Der Theologe gehörte in der DDR zu den Couragierten, die wohl in jeder geschichtlichen Situation zu den wenigen gehören – auf die sich aber später der große mittlere, der maßvolle und auch mäßige Rest beruft. Schorlemmer reckte allen die hohe Stirn seines wachen Geistes entgegen – all diesen diszipliniert Verhuschten, diesen opportunistisch Lauernden, diesen parteilich Spitzelnden, diesen verängstigt Verstummten und all den idealistisch Ermatteten. Er führte im Obrigkeitsstaat DDR christliche Jugendliche an den jungen Marx heran – und wurde von Eltern als SED-Mann beäugt. Er predigte Wehrdienstverweigerung – und musste sich von Vätern und Müttern sagen lassen, er gefährde damit die Berufswege der Söhne. Er verurteilte »Schießbefehlsgehorsam und Stasiismus«, aber: Er verhärtete nicht in Unversöhnlichkeit.

Der Pfarrerssohn, 1944 in Wittenberge (Prignitz) geboren, war »feindliches Element«, schon als Schüler. Die SED trainierte an ihm ihre Talente für Verachtung, Verstörung, Vernichtung. Und just so ein Verfolgter sagt eines Tages als Begründung, warum er alles tat, um nicht in den Knast zu kommen: »Ich wollte vermeiden, unrettbarer Antikommunist zu werden.« Er fürchtete, er bliebe ein Gezeichneter, und Gezeichneter wird man unweigerlich, »wenn in deiner Seele gewütet wird, als wäre es nur ein Unkrautfeld«. Unter »OV Johannes« hatte ihn die Stasi registriert. Johannes: Lieblingsjünger Jesu. Geht’s infamer? Ja. Der Aktenname des Sohnes: »Judas«. Auf Schulungen der Volkspolizei wurde geäußert, es könne doch nicht schwer sein, das »Problem Schorlemmer« im Straßenverkehr zu lösen.

Am 4. November 1989 war er zum Berliner Alexanderplatz gegangen. Er würde sprechen, auf der großen Demonstration für Meinungsfreiheit. Dieser Tag erhebt ihn: endlich Öffentlichkeit. Hohe Kultur der Fried-Fertigkeit, das hieß: Nichts ist fertig, alles beginnt. Am Morgen geht er also zum Alex, schreibt beseelt die Losungen des Volkswitzes in sein kleines Notizbuch – dessen Umschlag verräterisch rot ist. Er wird angeraunzt. Rotes Buch – roter Büttel. Bis ihn einige Leute erkennen. Ja, er! Der vor Jahren berühmt Gewordene beim Protest gegen östliche wie westliche Atomraketen: »Schwerter zu Pflugscharen!« 1983 im Lutherhof der Wittenberger Schlosskirche.

Schönstes Erlebnis im Herbst 1989? Es klingelte an der Wohnungstür in Wittenberg. Ein Kohlefahrer, betriebsbedingt beschmutzt, drückte dem Pfarrer eine Karte in die Hand: »Unser Dank denen, die uns halfen, unsere Sprache wiederzufinden. VEB Kohlehandel, Brigade Einzelhandel«.

Der Verehrer von Anti-Helden wie Jeremia, Jesus, Franziskus war Vikar in Halle-Neustadt, Studentenpfarrer in Merseburg, er arbeitete lange an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalts. Ein Friedensbewegter. Dessen Vater als Sanitäter die Wehrmachtsuniform trug, bis kurz vor Moskau – toten Kameraden sägte man die vereisten Beine ab, weil jedes aufgetaute Paar Stiefel Aufschub brachte, gegen den eigenen Kältetod. Das heimliche Tagebuch im Frontgraben: bitterste (Selbst)anklage.

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Nach 1990 wird Schorlemmer SPD-Fraktionsvorsitzender im Stadtparlament von Lutherstadt Wittenberg. Ins große Staats- und Parteiengeschäft? Nein. »Ich war nie ein in der Kirche geparkter Politiker.« Kein Gespür für Lobbyismus. Furcht vor Charakterverbiegung. Ein Basismensch noch oben auf der Kanzel. Er blieb ein Unermüdlicher, der das Wort ergriff, als wären es Sterne, die man pflücken und neu an einen Himmel ganz aus hohem Sinn stecken kann. Aufklärung als Selbstforschung, nicht zuvörderst als Erziehung anderer. Das unterschied ihn von vielen Linken. Seelsorge, das heißt freilich auch: Um die eigene Seele muss so einer sich meist selber sorgen. Schicksal der Kummerkästen.

»Klar sehen und doch hoffen« nannte er seine Erinnerungen. Er schrieb und predigte in der Mitte zwischen Tragik und hymnischer Freude, im Kreuzungspunkt von Erwartung und Schmerz, dort, wo alles ein Schweben ist, wo alles möglich ist an Gutem wie Verhängnisvollem; und just da sind die Spannungen des Herzens, des Denkens am größten. Er urteilte gern, aber wenn er Urteile fällte, fielen sie nicht wie Steine herab. Steinigung ist keine Gesprächsart. Er hatte eine Freiheit im Blick, die sich nicht frei machen wollte von demjenigen, den er ansprach.

Er wusste, wie man einen Kreis betritt und Mittelpunkt wird. Er erzählte uns, wo Gott wohnt. Damit führte er uns in die unwirtlichste Gegend der Welt, die zugleich die geheimnisvollste Gegend ist: das Fernste, was wir kennen, und das Naheste, dem wir ausgesetzt sind – das eigene Ich. Es ist die ewige Leerstelle und der ebenso ewige Erfüllungsort. In Schorlemmers Empfinden war der Mensch weder das Kleinste noch das Größte, weder das Beste noch das Wichtigste. Aber ein Wesen, dem die Möglichkeitsform vielleicht nie ausgeht.

Schorlemmers Einübung, nachlesbar in so vielen seiner Bücher: Mach dich nicht kleiner, als dir guttut; überwirf dich mit deinen Unterwerfungen. Leb so, dass man sieht und spürt: Dieser doch niemals zu tilgende Unterschied zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit ist dir nicht egal.

Es gibt derzeit leider eine Metaphysik des Mitmachens, vom Neoliberalismus in Gang gesetzt, sie festigt unsere leidige, nahezu alttestamentarische Grundausstattung: Jeder tut dem anderen alles an, was er ihm, ohne dafür bezahlen zu müssen, antun kann. Dagegen setzte dieser Autor seinen Zorn, seine Zuwendung; er beschwor den Mut, die Solidarität nicht länger als »Verliererparole« zu sehen, sondern als Hauptgegenstand des Selbst-Erlebens. »Glaube ist keine Versicherung gegen die Angst, sondern ein Bestehen in der Angst. Jeder hüte sich davor, sich ohne jede Willensanstrengung auf eine Mutlosigkeit herauszureden, die einfach nur Feigheit ist.«

Am 8. September ist Friedrich Schorlemmer mit 80 Jahren in einem Pflegeheim in Berlin gestorben.

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