Libanon-Attacke: Terror per Pager

Am Dienstag und Mittwoch explodierten hunderte Kommunikationsgeräte der Hisbollah. Das ist über die mutmaßlich israelischen Attacken bekannt

Mitten in einem Gemüsemarkt in Beirut explodiert Dienstagnachmittag ein Pager, den ein Mann mit sich trug.
Mitten in einem Gemüsemarkt in Beirut explodiert Dienstagnachmittag ein Pager, den ein Mann mit sich trug.

Es sind Szenen, wie man sie bis dato nur in einem Sci-Fi-Thriller erwartet hätte: Ein Mann steht an einer Supermarktkasse, er will eine Flasche Öl kaufen. Gerade reicht ihm die Kassiererin sein Rückgeld, dann eine Explosion, die den Mann zu Boden reißt. Wieder in einem Supermarkt, ein Mann steckt Äpfel in eine kleine Plastiktüte, neben ihm steht ein Teenager, auf der anderen Seite des Obsttisches ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter. Ein lauter Knall, der Apfelkäufer fällt zu Boden und schreit vor Schmerz – in dem Video, das in den sozialen Medien kursiert, sieht es so aus, als sei seine rechte Hosentasche explodiert.

Und genau das ist auch passiert: In der Hosentasche des Mannes befand sich einer von hunderten Pagern der Iran-nahen Hisbollah-Miliz, die am Dienstag zwischen 15:30 Uhr und 16:30 Uhr Ortszeit in verschiedenen Teilen des Libanons in die Luft gingen. Und zwar überall dort, wo sich die Pager-Träger gerade befanden, also in Supermärkten, in Wohnungen, in Bussen, mitten auf der Straße und in Krankenhäusern.

Bedeutet: Wer sich zufällig in nächster Nähe der Pager befand, konnte ebenfalls der Explosion zum Opfer fallen. Solche unterschiedslosen Angriffe sind in einer Konfliktsituation verboten, da sie auch nicht-militärische Ziele treffen und fallen – insofern es sich tatsächlich um eine israelische Attacke handelt – in die Kategorie Staatsterror.

Am stärksten betroffen waren die Hisbollah-kontrollierten Teile des Landes: Der Süden Libanons, die Bekaa-Ebene in den nord-östlich gelegenen Bergen an der Grenze zu Syrien und die Süd-Beiruter Vorstadt Dahyie.

Viele verloren bei der Attacke ihre Hand, ihre Hüfte wurde zerschmettert, einige erlitten Verletzungen im Gesicht.

»Plötzlich begannen die Pager von Menschen, die etwa im Logistikbereich der Hisbollah arbeiten oder in der medizinischen Abteilung, laut zu piepsen«, erzählt Mohammad Al-Kleit, ein Journalist aus Dahyie dem »nd«. Sie erhielten auf den Pagern eine Nachricht. »Als die Menschen auf die Nachricht klickten, explodierten die Pager.« In Videos, die im Netz kursieren, ist auch zu sehen, wie Pager wie von selbst direkt aus Hosentaschen heraus explodieren.

»Es war ein absolutes Chaos in Dahyie, die Menschen gerieten in Panik«, so der Journalist. Viele verloren bei der Attacke ihre Hand, ihre Hüfte wurde zerschmettert, einige erlitten Verletzungen im Gesicht. »Wir stehen alle unter Schock und versuchen immer noch zu verstehen, wie das geschehen konnte.«

Bislang sind zwölf Menschen durch die Attacke ums Leben gekommen, darunter auch eine Frau und zwei Kinder. Die Hisbollah bestätigte, dass mindestens zwei ihrer Mitglieder getötet wurden. Rund 3000 Menschen wurden bei der Attacke verletzt, 300 von ihnen befanden sich am Mittwoch in einer lebensbedrohlichen Situation.

»Es fühlte sich an wie ein zweiter 4. August«, sagt der Beiruter Amir Ghanem gegenüber »nd«. Genau fünf Jahre nach der Hafenexplosion ertönen wieder in der ganzen Hauptstadt Sirenen von Krankenwagen, die Verletzte bis in den Abend hinein in überfüllte Krankenhäuser brachten. Und wieder organisieren Beiruts Anwohner selbst per Social Media Aufrufe für Blutspenden, weil das marode Gesundheitssystem nicht genug Blut vorrätig hat.

Während sich der Libanon von dem Anschlag zu erholen versucht, wird darüber spekuliert, wie es möglich war, die drahtlosen Low-Tech-Geräte aus der Ferne zum Explodieren zu bringen. Anfangs wurde noch gemutmaßt, dass ein Hackerangriff aus der Ferne die Batterien zum Überhitzen brachte und dadurch die Explosion entstand. Experten scheint diese Variante allerdings unwahrscheinlich. David Kennedy, ein ehemaliger Analyst des US-Geheimdienstes National Security Agency, erklärte gegenüber CNN, dass die Explosionen »zu groß sind, als dass es sich um einen ferngesteuerten und direkten Hack handeln könnte, der den Pager überlasten und eine Explosion der Lithiumbatterie verursachen würde«.

Inzwischen deutet alles darauf hin, dass die Geräte schon Monate zuvor manipuliert worden waren. Unter Berufung auf amerikanische und andere Beamte, die über die Operation informiert waren, berichtete die »New York Times«, dass Israel in einer Reihe von Pagern, die beim taiwanesischen Hersteller Gold Apollo bestellt wurden und für die Hisbollah bestimmt waren, Sprengstoff versteckt hatte. Außerdem sei eine Art Schalter eingebaut worden, um sie aus der Ferne zu zünden. Aber warum nutzt Hisbollah eigentlich Pager? Anfang des Jahres hatte Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah seine Mitglieder und deren Familien dazu aufgerufen, ihre Handys wegzuwerfen, da Israel die Bewegungen des vom Iran unterstützten Terrornetzwerks über diese Geräte verfolgen könne. »Schalten Sie es ab, vergraben Sie es, legen Sie es in eine Eisentruhe und schließen Sie es ein«, sagte er im Februar. »Der Kollaborateur (mit den Israelis) ist das Mobiltelefon in Ihren Händen, in denen Ihrer Frau und Ihrer Kinder. Dieses Mobiltelefon ist der Kollaborateur und der Mörder.«

Der Gründer von Gold Apollo, Hsu Ching-kuang, sagte, dass sein europäischer Vertriebspartner, ein in Ungarn ansässiges Unternehmen namens BAC Consulting, vor etwa drei Jahren eine Beziehung zu dem taiwanesischen Unternehmen aufgebaut hat. Zunächst importierte BAC nur die Pager und Kommunikationsprodukte von Gold Apollo, sagte er. Später teilte das Unternehmen Gold Apollo mit, dass es seine eigenen Pager herstellen wolle und bat um das Recht, die Marke des taiwanesischen Unternehmens zu verwenden.

Hsu sagte, Gold Apollo sei bei seinen Geschäften mit dem Händler auf mindestens eine Unregelmäßigkeit gestoßen, die sich auf eine Überweisung bezog, deren Abwicklung lange dauerte. Das Modell AR294 »wird von BAC hergestellt und verkauft. Wir erteilen lediglich die Genehmigung für das Markenzeichen und sind nicht an der Entwicklung oder Herstellung dieses Produkts beteiligt«, so Gold Apollo.

Aber auch BAC weist zurück, die manipulierten Pager hergestellt zu haben. »Ich mache keine Pager. Ich bin nur der Vermittler. Ich denke, es gibt ein Missverständnis«, sagte die Inhaberin und Geschäftsführerin von BAC, Cristiana Barsony-Arcidiacono, nach Angaben des Senders »NBC News«.

Am Mittwochnachmittag kam es dann zu einer zweiten Angriffswelle. Diesmal explodierten nicht Pager, sondern Walkie Talkies der Hisbollah – Typ IC-v82 des Herstellers Icom. Im Internet kursieren Videos von einer Beerdigung der Opfer der Pagerattacke in Dahyie. Inmitten einer dichtgedrängten Menschenmasse ist eine Explosion zu sehen – es folgen Schreie, die Anwesenden versuchen, sich panisch in Sicherheit zu bringen. Details sind bis zum Redaktionsschluss nicht bekannt.

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