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Berliner Präventionstag: Istanbul in weiter Ferne

Das Versorgungssystem für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen muss umfassend ausgebaut werden

Beim Ausbau des Schutzes für gewaltbetroffene Frauen darf sich das Land Berlin keine Pause erlauben.
Beim Ausbau des Schutzes für gewaltbetroffene Frauen darf sich das Land Berlin keine Pause erlauben.

Im großen Magazin der Heeresbäckerei in der Köpenicker Straße in Kreuzberg hören am Donnerstagmittag über hundert Menschen der Anwältin und Autorin Ahas Hedayati zu, die auf der Hauptbühne über die Schwierigkeiten im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen spricht. Ein Stockwerk weiter oben präsentieren Projektträger aus dem Hilfesystem ihre Arbeit bei einem »Markt der Möglichkeiten«. In kleineren Räumen werden inhaltliche Workshops gegeben, auch eine Ausstellung mit dem Titel »Women in the Dark« (Frauen im Dunkeln) wurde aufgebaut. Anlass ist der Berliner Präventionstag 2024 unter dem Motto »Geschlecht und Gewalt – Vielfalt ermöglichen, Gewaltursachen bekämpfen«, organisiert von der Landeskommission Berlin gegen Gewalt.

Soll und Ist in Berlin laut Versorgungsstudie 2023
  • Die Istanbul-Konvention (IK) sieht auf Berlin berechnet eine Versorgung von gewaltbetroffenen Frauen durch 387 Familienplätzen mit 871 bis 1002 Betten vor. Das heißt, dass Frauen mit ihren Kindern einen solchen Familienplatz in Anspruch nehmen können.
  • Bei einer engen Auslegung der Konvention zählen in Berlin die Zufluchtswohnungen nicht zu diesen Plätzen, weil sie nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit Frauen und Kinder akut aufnehmen können, es braucht zunächst einen Mietvertrag.
  • Ohne die Zufluchtswohnungen kommt Berlin auf 211 Familienplätze in Frauenhäusern, Frauenschutzwohnungen und der Clearingstelle mit 522 Betten. Es fehlen also 176 Familienplätze mit 349 bis 480 Betten, was 45 Prozent des Bedarfs nach IK sind.
  • Mit Zufluchtswohnungen kommt Berlin auf 331 Familienplätze mit 738 Betten. Nach dieser Berechnung fehlen noch 15 Prozent der vergesehenen Plätze.
  • Berlin bräuchte gemäß Istanbul-Konvention 19 spezialiserte Fachberatungsstellen zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Es gibt allerdings nur 9 solcher Stellen. Selbst wenn noch 5 sonstige Beratungsstellen hinzugezählt werden, die teilweise den Anforderungen IK entsprechen, fehlen noch 5 Stellen.
  • Die Konvention gibt einen Personalschlüssel pro Bevölkerung vor. Gemäß diesem müssten in Berlin 137 Menschen in Vollzeit bei den Beratungsstellen tätig sein. Bei den oben genannten 14 vorhandenen Stellen im erweiterten Sinne arbeiten allerdings nur 56,6 Vollzeit-Äquivalente. Es fehlt also knapp 60 Prozent des vorgesehenen Personals.

    Ein Schwerpunkt des Präventionstags ist die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Das ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie häuslicher Gewalt, seit 2018 in Deutschland geltendes Recht. Um deren Umsetzung in Berlin zu prüfen, hat das Abgeordnetenhaus den Senat 2022 mit der Durchführung einer Studie beauftragt. Das Fazit ist erschütternd: Nicht nur fehlt es an Schutzplätzen sowie an Wohnraum für gewaltbetroffene Frauen und Kinder, auch das spezialisierte Beratungsangebot muss ausgebaut werden, und zwar um mehr als das Doppelte der aktuellen Kapazitäten.

    »Der Ausbau der spezialisierten Fachberatungen ist fast noch wichtiger als der Ausbau der Schutzplätze, damit es nicht immer zum Worst Case kommen muss«, sagt Petra Kaps, Projektleiterin beim Zentrum für Evaluation und Politikberatung (ZEP), während sie die Ergebnisse der Studie vorstellt. Eine weitere Handlungsempfehlung des Projektteams, das die Studie erstellt hat, ist eine bessere Unterstützung bei der Wohnungssuche von Frauen und Kindern, die aus Schutzeinrichtungen ausziehen wollen. Denn aufgrund der Wohnungsnot in Berlin würden die Plätze in den Schutzunterkünften lange belegt bleiben, weil die Bewohner*innen keine Wohnung finden. Deshalb können sie nicht für Frauen in akuter Not freigegeben werden. »Es stehen quasi noch weniger Schutzplätze zur Verfügung, als auf dem Papier vorhanden«, sagt Kaps. Konrekt empfiehlt sie, Anträge auf Wohnberechtigungsscheine bei Frauen, die aus Schutzunterkünften ausziehen wollen, zu priorisieren und größere Wohnungen im geschützten Marktsegment zu schaffen, die für Familien geeignet sind.

    Ein anderes schwerwiegendes Problem der Berliner Versorgungsstruktur seien die uneinheitlichen Zuständigkeiten der Behörden. Je nach Bezirk ist es anders geregelt, wer sich um die Familien in den Schutzunterkünften kümmert, ob es etwa der Standort der Unterkunft ist oder der Standort des vorherigen oder zukünftigen Wohnorts. »Wir haben das mal ausgerechnet. Pro Einrichtung in Berlin kommen im Schnitt 120 verschiedene Zuständigkeitskonstellationen infrage«, sagt Kaps. Diese müssten die Fachkräfte in den Einrichtungen theoretisch alle parat haben. In der Realität führt es aber in den Einrichtungen dazu, dass die zuständigen Ansprechpersonen oft unklar sind und sich Vorgänge verzögern.

    »Es stehen quasi noch weniger Schutzplätze zur Verfügung, als auf dem Papier vorhanden.«

    Petra Kaps
    Zentrum für Evaluation und Politikberatung

    Aus der Versorgungsstudie des KEP geht auch hervor, dass die Randbezirke Berlins schlechter aufgestellt sind als die zentraleren Bezirke. Das müsse sich ändern, sagt Kaps. Als weitere wichtige Handlungsempfehlung gibt das Team der Berliner Landespolitik mit, dass es eine bessere strategische Steuerung der Versorgung auf Landesebene und bei den Bezirken brauche.

    Auch bei der Arbeit der Polizei könne nachgebessert werden: Im Rahmen der Studie äußerten Einrichtungen, dass die Beweisaufnahme nicht gründlich und sensibel ablaufe. Außerdem dauerten die Verfahren zu lange. »Von der Polizei weiß ich, dass es nicht genug Personal in dem Bereich gibt. Das ist kein Schwerpunkt«, so Kaps.

    An dem Workshop zur Versorgung gewaltbetroffener Frauen und Mädchen nehmen etwa 30 Menschen teil, viele davon im Hilfesystem tätig, wie eine kruze Abfrage zu Beginn zeigt. Auch aus den Bezirken sind Vetreter*innen da. Die vor Kurzem fertiggestellte Studie soll nun den Landespolitiker*innen als Grundlage für die Weiterentwicklung eines bedarfsgerechten Versorgungssystems dienen.

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