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Polizei und Ableismus: »Dann wurde ein Amtsarzt angefordert«
Wie Menschen mit Behinderung im Klimaaktivismus von der Polizei schikaniert werden
Diskriminierung gegen Menschen mit Behinderung sind alltäglich. Auch in der Klimagerechtigkeitsbewegung gibt es noch immer viele Barrieren. Davon Betroffene müssen immer wieder erkämpfen, dass ihre Bedürfnisse mitgedacht und berücksichtigt werden, ob beim Klimacamp oder in Aktion. Die Klimaaktivistin Ariel Stein ist selbst seit vielen Jahren in der Bewegung aktiv und war schon bei vielen Aktionen dabei. Im Frühjahr hat sie mit weiteren Aktivist*innen in ihrem Rollstuhl ein Steinkohlekraftwerk blockiert. Das Ausmaß an ableistischer Diskriminierung von Seiten der Polizei und der Repressionsbehörden hat uns schockiert. In diesem Beitrag berichtet Stein, wie sie die Situation erlebt hat:
Gleisblockade in Gelsenkirchen
Im April 2024 blockierten wir mit rund 100 Menschen die Gleise vor dem Steinkohlekraftwerk Scholven in Gelsenkirchen. Im Fokus der Aktion standen die koloniale Ausbeutung und Menschenrechtsverletzung in Kolumbien in Zusammenhang mit dem dortigen Kohletagebau. Ein Großteil der deutschen Kohleimporte kommt aus diesen Minen. Auch deutsche Unternehmen sind in die paramilitärische Gewalt gegen die dort lebenden indigenen und afro-kolumbianischen Gemeinschaften verwickelt. Daher setzen wir uns gemeinsam mit den Aktivist*innen vor Ort für Klimagerechtigkeit ein.
Als wir im Morgengrauen unseren Protest auf den Schienen der Kohlebahn begannen, waren erst gar keine und dann lange nur sehr wenige Polizist*innen vor Ort. Erst gegen 14 Uhr marschierte dann eine Hundertschaft der Polizei auf und begann die Blockade zu räumen. Dabei waren sie nicht zimperlich, die Aktivist*innen wurden über den Schotter geschleift, auch Schmerzgriffen wurden systematisch angewandt. Gegen 17 Uhr war die Räumung weitestgehend abgeschlossen, nur ich und meine beiden Freundinnen, die in dieser Aktion meine Assistentinnen waren, saßen noch auf den Gleisen.
Jetzt erst begann die Polizei, sich damit zu beschäftigen, wie sie mich mit meinem etwa 250 Kilogramm schweren E-Rollstuhl wieder von den Gleisen herunterbekommen können. Augenscheinlich waren die Polizist*innen vor Ort mit der Situation überfordert. Immer wieder bedrängten sie uns, doch mitzuhelfen und ihnen zu sagen, wie ich denn überhaupt erst auf die Gleise gekommen wäre. Sie drohten damit, mich von meinem Rollstuhl zu trennen und mich mit einer Trage und Rettungswagen von den Gleisen zu holen. Wir ließen sie zappeln.
Wir saßen eine Stunde, ohne dass etwas passierte auf den Gleisen, umringt von Polizisten. Schließlich zeigten wir ihnen sogar die Hilfsmittel, die wir benutzt hatten. Es waren einfache Bretter. Einige der Polizist*innen wollten diese verwenden, eine Vorgesetzte fand aber, dies sei zu gefährlich. Ich könnte ja herausfallen oder umkippen. Die anfängliche »Besorgnis« um meine Unversehrtheit sollte später keine Rolle mehr spielen. Die Stimmung kippte nämlich zunehmend.
Inzwischen waren drei Feuerwehrleute hinzugezogen worden. Wir zweifelten, dass sie die Rolle von »medizinischem Fachpersonal« übernehmen könnten. Meine Freundinnen, die wissen, was ich brauche, wurden dennoch ohne mich geräumt. Auch meine Sachen, darunter mein Strohhalm, ohne den ich nicht trinken kann, wurden mitgenommen, sodass ich von nun an weder Trinken noch Essen hatte.
Nicht nur die Feuerwehrleute, sondern auch die Polizei hatte keine Ahnung von der Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen. Mir wurden Fragen gestellt, ob ich lesen könne oder ob ich wüsste, warum ich hier auf den Gleisen sitze. Mehrfach wurde vermutet, dass ich in einer Einrichtung leben und es jemanden geben müsse, der ein Aufenthaltsbestimmungsrecht für mich hat. Sogar über einen Betreuungsausweis wurde spekuliert. Noch während ich mich auf den Gleisen befand, wurde ein Amtsarzt angefordert, um mich auf meine körperliche und geistige Gesundheit hin zu überprüfen.
Nachdem ein Abschleppunternehmen sich geweigert hatte, mich mitsamt Rollstuhl die Böschung hochzuziehen, das wäre ein äußerst gefährlicher Plan gewesen, kam schließlich ein Spezialfahrzeug der Feuerwehr. Es wurde eine Art Plattform auf den Schienen zu mir geschoben. Natürlich hatte diese auch keine Rampe oder ähnliches. Daher wurde ich mit meinem E-Rollstuhl unter viel Fluchen und Stöhnen von einigen Polizist*innen auf die Plattform gehoben und am etwa 400 Meter entfernten Sammelplatz der Polizei wieder heruntergehoben.
Insgesamt wurde nur durch meine Anwesenheit und die Dauer der Räumung die Blockade der Gleise um mindestens zwei Stunden verlängert. Der richtige Mensch zur richtigen Zeit am richtigen Ort kann eben doch etwas bewirken. Ich hoffe, diese und weitere ähnlich effektive Aktionen überzeugen endlich die letzten Klimaaktivist*innen und Zweifler*innen davon: Behinderte sind keine Last, sondern eine Bereicherung!
Psychoterror im Polizeigewahrsam
Einmal runter von den Gleisen fing die Tortur aber erst richtig an. Mein Recht auf einen Anruf wurde mir verweigert. Einzelne Polizist*innen meinten, ich müsse isoliert werden und dürfte auf keinen Fall Kontakt nach draußen haben. Zu diesem Zeitpunkt waren alle anderen Aktivist*innen längst wieder frei. Mir gegenüber wurde behauptet, dass die Polizei eine Fürsorgepflicht für mich habe und mich daher nicht gehen lassen dürfe, auch nicht zu meinen Freund*innen, die etwa 200 Meter entfernt bei einer Mahnwache warteten. Wieder wurde von meinem körperlichen Zustand auf meinen geistigen Zustand geschlossen. Es wurde davon auszugehen, ich könne nicht selbst für notwendige Hilfe sorgen. Das ist diskriminierend.
Dagegen wurde auf eine Beurteilung durch den Amtsarzt bestanden. Dieser behauptete, von der Staatsanwaltschaft freie Hand bekommen zu haben. Daher würde er mich in die geschlossene Psychiatrie einweisen. Der Arzt war unfähig, mich einzuschätzen. Ich konnte mich kaum mit ihm unterhalten, weil er mich akustisch nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Er log mich auch eiskalt an: Meine Freund*innen wären alle weg, und ich wäre jetzt ganz alleine hier.
Während bereits Vorbereitungen getroffen wurden, mich in die Psychiatrie zu bringen, wurde der Arzt unvermittelt gefragt, ob aus seiner Sicht medizinisch etwas dagegen spräche, wenn ich doch an meine Freund*innen übergeben würde. Seine Antwort drauf war trotz seiner vorherigen Aussagen: »Nein«. So wurde ich dann nach mehr als zwei Stunden anstrengender Diskussionen und Psychoterror freigelassen.
Das Polizeigewahrsam war heftig und hat mich zugleich gestärkt. Jetzt weiß ich, ich kann dem Druck standhalten, der in solchen Situationen aufgebaut wird. Zudem hatte ich die ganze Zeit die Sicherheit von meinen Mitstreiter*innen, nicht alleine gelassen zu werden.
Glücklicherweise kommen solche krassen Diskriminierungen nur selten vor. Weniger starke ableistische Entwürdigungen in meinem Alltag treffen mich und viele andere Behinderte aber trotzdem. Denn diesen sind wir täglich ausgesetzt, wodurch sie kontinuierlichen und unmittelbaren Einfluss auf unsere Leben haben.
Ariel Stein ist 29 Jahre alt, lebt im Münsterland und ist in verschiedenen Klimagerechtigkeitsgruppen und gegen Ableismus aktiv.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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