Libanon: Mitten in einem Krieg, den keiner wollte

Durch die israelischen Angriffe sind seit Montag Zehntausende Libanesen zur Flucht gezwungen worden

  • Marco Keilberth, Beirut
  • Lesedauer: 5 Min.
Auf der syrischen Seite der Grenze zum Libanon, in Dschdeidat Jabus im Südwesten Syriens, sitzt eine aus dem Libanon geflohene Frau mit einem Kind auf dem Schoß auf dem Boden.
Auf der syrischen Seite der Grenze zum Libanon, in Dschdeidat Jabus im Südwesten Syriens, sitzt eine aus dem Libanon geflohene Frau mit einem Kind auf dem Schoß auf dem Boden.

Auch am dritten Tag der schweren israelischen Luftangriffe auf den Südlibanon und die Bekaa-Ebene geht die Fluchtwelle Richtung Beirut weiter. Die aus der Stadt Tyros in den Norden führende Autobahn 51 war am Mittwochmorgen hoffnungslos verstopft. Pannenhelfer und Freiwillige der Zivilverteidigung halfen zahlreichen Familien, deren Wagen wegen Benzinmangels oder technischen Problemen liegengeblieben waren. »Auf vielen Abschnitten werden auch die nach Süden führenden Fahrbahnen genutzt«, sagt Mohammad, der mit seinem Abschleppwagen aus Beirut unentgeltlich hilft. »Wir müssen jetzt als Nation zusammen halten, egal wie unterschiedlich unsere Meinungen sind«, sagt der sunnitische Muslim.

Auf seinem Mercedes-Abschleppwagen mit deutschem und libanesischem Kennzeichen ist der Wagen der Familie Ghandour festgezurrt. Der Motor hat aus irgendeinem Grund den Geist aufgegeben. »Vielleicht ist der Tank auch leer«, sagt Vater Mohammad, der verzweifelt auf einer Leitplanke sitzt. Seit Stunden bewegt sich der Stau im Süden von Beirut nicht von der Stelle. Mit umgerechnet 25 US-Dollar in der Tasche ist die Familie aus dem israelisch-libanesischen Grenzgebiet aufgebrochen, in Richtung Dahieh, dem von Schiiten bewohnten Süden der Hauptstadt.

Überstürzte Flucht nach Bombeneinschlägen

»Wir haben keine Verwandten dort und hoffen, in einer der für Flüchtlinge geöffneten Schule unterzukommen«, sagt Ghandour. Seine Hände zittern, nachdem er sich die neusten Aufnahmen der Bombenschäden angesehen hat, während seine Frau Haniya die beiden Kinder mit Keksen beruhigt. Die Ghandours hatten keine Zeit, wichtige Utensilien aus ihrem Haus mitzunehmen. »In unserem Dorf südlich von Tyros schlugen am Montag plötzlich Bomben ein, einfach so«, sagt der Landwirt, »dabei waren weder die Hisbollah noch die Hamas oder der Islamische Dschihad in der Nähe«.

Er sagt, die israelische Armee hätte am Montagnachmittag, kurz nach Beginn der wohl intensivsten Luftangriffe seit 18 Jahren, Nachrichten auf libanesische Mobiltelefone gesendet. Darin wurde die Bombardierung von Wohnhäusern angekündigt, in denen Hisbollah-Raketen versteckt seien. »Halten sie sich nicht in der Nähe der Waffenlager auf«, steht in einer Warnung, die Mohammad Ghandour zeigt.

Israelische Armee verschickt SMS an Libanesen

Von wem die Nachricht tatsächlich stammt, ist unklar. Doch alle hier im Stau vor Beirut glauben fest daran, dass der israelische Geheimdienst Mossad den Plan hat, den Süden des Libanon zu einer Sperrzone zu machen. Der Mossad schicke zusammen mit der israelischen Armee auch Evakuierungsbefehle an die Palästinenser in Gaza, sagen sie. Zwischen den Autos auf der A 51 wird die zweite SMS von unbekanntem Absender diskutiert, die am Dienstag eintraf, auch auf Mohammad Ghandours Telefon: »An alle Bewohner des Libanon, die ihre Häuser verlassen haben, kehren sie nicht zurück. Dies ist gefährlich.« Eigentlich wollte die Familie nur für ein paar Tage in die für sie unbekannte Metropole kommen, doch schon die zwei Tage dauernde Hinreise hat sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. »Ich beginne zu zweifeln, ob wir jemals zurückkehren werden«, sagt Mohammad Ghandour und holt tief Luft.

»Ich bin gegen die israelische Besatzung der Palästinenser, aber kritisiere auch die Hisbollah, weil sie sich die Interessen des Iran zu eigen gemacht haben.«

Besitzer eines Elektronikladens in Beirut

Beirut steht auch ohne den Zustrom von zehntausenden Menschen aus dem Süden vor dem institutionellen Kollaps. Ministerien sind verwaist, Behörden und Banken kaum funktionstüchtig, die Krankenhäuser haben alle Operationen abgesagt. Seit der Explosion von Pagern und Funkgeräten in den Händen von 3000 Hisbollah-Funktionären ist die mächtigste Organisation im Land wie gelähmt. Nach neuesten Umfragen lehnen 70 Prozent der Libanesen den Kurs der vom Iran unterstützten Hisbollah zwar ab, doch die Christen, Drusen und im Norden des Libanon lebenden Sunniten sind weder bewaffnet noch bereit für einen Bürgerkrieg.

»Ich will, dass wir uns aus der Sache heraushalten«, sagt der Eigentümer eines Elektronikladens in der Maraad-Straße im Zentrum von Beirut. Weder seinen Glauben noch seinen Namen will er gedruckt sehen. »Die Explosion der elektronischen Geräte hat doch gezeigt, dass niemand mehr sicher ist«, sagt er. »Ich bin gegen die israelische Besatzung der Palästinenser, aber kritisiere auch die Hisbollah, weil sie sich die Interessen des Iran zu eigen gemacht haben«, beklagt er. »Nach der syrischen Besetzung unseres Landes sollte nun auch der Iran verschwinden.« Weil die Banken nur noch begrenzt Geld ausgeben, bleiben die Kunden dem kleinen Elektronikladen fern.

Hisbollah: bewaffnete Miliz und politische Partei

Viele im Zentrum von Beirut sind aber nicht aus politischen Gründen auf die Hisbollah sauer. »Sie kontrollieren den Hafen und Schmuggelrouten nach Syrien«, sagt Hassan, ein Sunnit, der ein gebrauchtes chinesisches Mobiltelefon kauft – aus Angst, sein derzeitiges Gerät könne Sprengstoff enthalten. »Alles, vom Mobiltelefon bis zum Gemüse, ist in den schiitischen Stadtteilen von Beirut viel günstiger.«

Im schiitischen Süden Beiruts, in Dahieh, ist die Hisbollah eher eine Hilfsorganisation und politische Partei, die bewaffnete Miliz ist kaum wahrnehmbar.
Viele der aus dem Süden fliehenden Schiiten sind auf die Hilfe der Hisbollah-Wohlfahrtsorganisationen angewiesen. Denn in Tripoli und anderen sunnitischen Städten im Norden des Libanon haben viele Bewohner auf sozialen Medien bereits klargemacht: Sie werden die Flüchtlinge aus dem Süden nicht aufnehmen.

Fragiles Machtgleichgewicht

»Die Machtbalance zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen des Libanon ist fragil«, warnt Makram Rabah von der Amerikanischen Universität Beirut. Der Historiker kritisiert seit Jahren die Unterwanderung der staatlichen Institutionen durch die Hisbollah. »De facto ist der Libanon von einer ausländischen Macht okkupiert und ohne aktuellen Präsidenten derzeit handlungsunfähig.« Dass der in einigen israelischen Medien geforderte Aufstand der Libanesen gegen die Hisbollah realistisch sei, glaubt auch Rabah nicht.

Der Beschuss des Mossad-Hauptquartiers in Zentralisrael am Dienstagabend deutet eher darauf hin, dass die angeschlagene Miliz noch über ein großes Arsenal an Waffen verfügt. Auch ohne die Unterstützung aus dem Iran könnte sie durch die israelischen Bombardierungen sogar wieder populärer werden.

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