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Sachsenhausen: Stein auf Stein für die Erinnerung
Lehrlinge aus Bremen sanieren die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen und werden dabei ausgerechnet jetzt alleingelassen
Marvin Bloedau setzt den Hammer an. Er bittet, ein paar Schritte zurückzutreten, damit niemand einen Splitter ins Auge bekommt. Dann klopft Bloedau Stücke von einem Mauerstein ab. Er tut es mit Augenmaß. Das zeigt sich gleich beim ersten Versuch, ob der Stein jetzt für die Stelle passt, für die er bestimmt ist – er passt! Dabei ist Bloedau erst im zweiten Lehrjahr und er absolviert eine Ausbildung nicht zum Maurer, sondern zum Zimmermann. Aber Zimmerleute lernen auch mauern. Denn wenn sie einen Dachstuhl aus Holz bauen oder reparieren, kann es sein, dass sie am Mauerwerk etwas ausbessern müssen.
Bereits zum 27. Mal gibt es die Projektwoche »Lernen und arbeiten im ehemaligen KZ Sachsenhausen«. Lehrlinge vom Berufsschulzentrum Alwin-Lonke-Straße in Bremen kommen dafür schon seit 1994 vorbei. Lehrlinge des Eduard-Maurer-Oberstufenzentrums im brandenburgischen Hennigsdorf beteiligten sich seit 1998. Doch diesmal fehlen die Hennigsdorfer – ausgerechnet jetzt, in der Woche nach der Brandenburger Landtagswahl, bei der es einen deutlichen Rechtsruck gab. Die Linke bekam am Sonntag nicht einmal mehr drei Prozent und die AfD fast 30.
Erst einen Monat vor der Projektwoche erfuhr die Bremer Berufsschulleherin Katrin Graf, dass sie diesmal mit den eigenen Kräften auskommen muss und nicht mit den Maurerlehrlingen aus Hennigsdorf rechnen kann. Zwei der Kollegen dort, die sich bislang für das Projekt einsetzten, sind in Rente gegangen. Wie sich herausstellt, gerät damit die lange fruchtbringende Zusammenarbeit ins Stocken. Graf musste umdisponieren.
Jetzt kümmern sich also angehende Zimmerleute und Maler um die Reparatur einer Hofeinfahrt links vom Haupteingang der Gedenkstätte Sachsenhausen. Die Aufhängung des Holztors – der Fachbegriff lautet Kloben – war locker. Das Tor wackelte bedenklich und ließ sich nicht mehr schließen. Nun sitzen die Kloben wieder fest im Mauerwerk. Maler- und Zimmermannslehrlinge verputzen es am Donnerstag. Für Maler gehört das ebenfalls zur Ausbildung. Schließlich müssen sie eine Wand vor dem Anstreichen oder Tapezieren ausbessern können. Ein Tischlerlehrling macht auch mit. Gehört das standardmäßig zu seiner Ausbildung? »Nö«, sagt Katrin Graf. »Aber er hatte Lust, das mal auszuprobieren.«
Gerade rumpelt ein Multicar auf den Garagenhof. »Jungs, schnappt euch eine Schippe«, ruft Graf. Es gilt, den Bauschutt auf die Ladefläche des Allzweck-Nutzfahrzeugs zu laden. Zu entsorgen sind auch die alten Torflügel. An denen schraubte Graf Ende der 90er Jahre persönlich herum, wie sie sich erinnert. Damals machte sie selbst noch ihre Ausbildung und nahm als Lehrling an der Projektwoche teil. Als ihr einstiger Lehrer in den Ruhestand trat, übernahm Graf die Projektleitung. Das Holztor ist inzwischen so kaputt, dass es ersetzt werden muss. Nächstes Jahr soll ein neues angefertigt werden. »Wir planen vor, wir kommen wieder«, verspricht Graf.
Auf dem einstigen Industriehof des Konzentrationslagers sind Tischlerlehrlinge in einer Halle dabei, Türen so nachzubauen, wie sie im Original waren. So aufwendig werden Türen heute nicht mehr angefertigt. Aber die alten Handwerkstechniken gehören immer noch zur Ausbildung. Sie zu beherrschen, müssen die Lehrlinge in praktischen Prüfungen beweisen. Denn es kann sein, dass sie später als Gesellen auf eine Baustelle kommen, wo es in einem alten Gebäude so eine Tür denkmalgerecht zu ersetzen gilt – wie jetzt hier in Sachsenhausen.
»Orte wie dieser sind so wichtig, um an unsere Geschichte zu erinnern.«
Rosalie Wewerke Tischlerlehrling
Tischlerlehrling Rosalie Wewerke macht sich mit einem Hobel an einer Holzlatte zu schaffen. »Orte wie dieser sind so wichtig, um an unsere Geschichte zu erinnern und hoffentlich dabei zu helfen, dass so etwas nie wieder passiert«, erzählt sie. »Auch wenn es bedrückend ist, hier zu sein und zu arbeiten, fühlt es sich doch vor allem sehr gut an, zur Erhaltung beizutragen und unseren kleinen Teil dazu zu leisten, dass die Gedenkstätte weiter bestehen kann.«
Für ihren Kollegen Thibaut Köhn war es »erschreckend«, in den Ausstellungen auf dem Gelände zu erfahren, wie viele nachweislich an den hier verübten Naziverbrechen beteiligte Täter nach der Befreiung vom Faschismus ungestraft davonkamen oder frühzeitig aus der Haft entlassen wurden. Köhn nennt als Beispiel einen Arzt, der medizinische Versuche an Kindern vornahm und nach dem Zweiten Weltkrieg unbehelligt weiter praktizieren durfte.
Die Lehrlinge hämmern, sägen, schleifen und lackieren nicht nur. Sie bekommen außerdem eine Führung und erhalten darüber hinaus noch Zeit, Ausstellungen der Gedenkstätte zu besichtigen. Diese Möglichkeit hat den Tischlerlehrling Robert Wiegers dazu bewogen, mit nach Sachsenhausen zu fahren. Denn vorher hat er eine KZ-Gedenkstätte noch nie betreten. Mittlerweile müssen die jungen Leute 150 Euro aus eigener Tasche für Anreise und Übernachtung in einer Jugendherberge beisteuern. Nichts kosten würde es sie, wenn sie während der Projektwoche in Bremen blieben und dort an ihrem Berufsschulzentrum einen Koch- oder Zeichenkurs belegten.
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Dass Wiegers und die 29 anderen eine nicht unbeträchtliche Summe aufbringen müssen und trotzdem stets mehr Lehrlinge mitkommen möchten, als Katrin Graf mitnehmen kann, beweist, dass ihnen die Aufgabe hier eine Herzenssache ist. Nur von den Glasern wollte dieses Jahr niemand dabei sein, und die Teilnahme ist grundsätzlich freiwillig. Darum sind nun andere Gewerke mit der Dauerbaustelle ehemalige Häftlingswäscherei betraut. Auf der einen Seite des historischen Flachbaus sind innerhalb mehrerer Jahre schon fast alle Doppelfenster aufgearbeitet. Hier sind nun Wiegers und drei Kollegen mit den letzten drei Fenstern befasst. Nächstes Jahr könnte es mit den Fenstern auf der anderen Seite des Gebäudes weitergehen. Doch Lehrerin Graf hat andere Pläne. Ihrem prüfenden Blick zufolge sind die Fenster der alten Pathologie dringender reparaturbedürftig. Die sollen zunächst drankommen. An Arbeit wird es dem Projekt in den kommenden Jahren nicht mangeln.
Sorge bereitet die politische Entwicklung. Dass die AfD bei der Landtagswahl am Sonntag abräumen würde, wusste Robert Wiegers vorher nicht. Aber es hat ihn nicht sonderlich überrascht. »Dass es immer rechter wird, das ist ja nicht nur in Brandenburg so«, sagt er. Hätte er es vorher gewusst – er wäre trotzdem gefahren.
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