• Politik
  • Tausende Menschen auf der Flucht

Libanon in der größten Krise seit dem Bürgerkrieg

Nasrallah-Ermordung und Tausende Flüchtlinge nach israelischen Bombardierungen destabilisieren das Land

  • Mirco Keilberth, Beirut
  • Lesedauer: 3 Min.
Israels Luftangriffe haben tausende Menschen im Libanon zu Flüchtlingen gemacht. Weil sie nirgendwo unterkommen können, übernachten sie auf den Straßen Beiruts.
Israels Luftangriffe haben tausende Menschen im Libanon zu Flüchtlingen gemacht. Weil sie nirgendwo unterkommen können, übernachten sie auf den Straßen Beiruts.

Auch in der Nacht zum Sonntag gingen die schweren israelischen Luftangriffe auf vermeintliche Stellungen der Hisbollah im Libanon weiter. Ziel seien überall im Land Gebäude gewesen, »in denen sich Waffen und militärische Strukturen der Organisation befinden«, so eine Erklärung des israelischen Generalstabs. Doch die eingesetzten 500-Kilo-Bomben haben nicht nur im von Schiiten bewohnten Süden Beiruts ganze Straßenzüge zerstört. Auch in christlichen Dörfern der Bekaa-Ebene liegt eine unbekannte Zahl von Opfern unter den Trümmern ihrer Häuser.

Seitdem am Montag innerhalb der ersten 24 Stunden des Bombardements mehr als 500 Libanesen starben, so viele wie noch nie in so kurzer Zeit, irren tausende Familien in der libanesischen Hauptstadt herum. »Wir wissen einfach nicht wohin«, sagt Jergyes Gabriel, ein Familienvater aus Hadath. Auch in dem Stadtteil, in dem mehr Christen als schiitische Hisbollah-Anhänger leben, fordert die israelische Armee die Bewohner auf, zu fliehen. »Ich habe den Evakuierungsbefehl zufällig auf einem Telegram-Kanal gesehen, eine Stunde später waren wir mit unseren beiden drei-und fünfjährigen Kindern und einem Koffer auf der Straße«, sagt Gabriel. »Heute kommen wir bei Freunden unter, aber steht unser Haus noch in ein paar Tagen?«

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

An Waffenruhe glaubt keiner mehr

Während der 32-Jährige an einer Tankstelle im Zentrum von Beirut spricht, blickt er immer wieder ängstlich nach Süden. Dunkle schwere Rauchwolken steigen über Dahieh auf, dem von der Hisbollah dominierten Nachbarstadtteil von Hadath. Die nach dem Tod von Anführer Hassan Nasrallah nicht nachlassenden Bombardierungen deuten die meisten Libanesen als Beweis, dass die von Frankreich und den USA vorgeschlagene Waffenruhe bereits Makulatur ist. »Ich habe Angst, die israelischen Angriffe könnten der Beginn eines innerlibanesischen Bürgerkriegs sein«, sagt der Christ Gabriel.

Am Samstag hatten Anhänger der schiitischen Hisbollah Läden und Restaurants gestürmt, die von syrischen Kriegsflüchtlingen betrieben werden. Zuvor hatte Dschamal Rayyan, ein Moderator des Nachrichtensenders Al-Jazeera, den Verdacht geäußert, syrische Informanten hätten dem israelischen Geheimdienst Mossad die versteckten Führungsbunker der Hisbollah verraten. Bei den Übergriffen gab es zwar nur wenige Verletzte, doch sie tragen zu dem allgemeinen Schockzustand bei, in dem sich weite Teile Beiruts mittlerweile befinden.

Geflüchtete schlafen auf den Straßen Beiruts

Vor Supermärkten stehen Familien frühmorgens Schlange, um sich mit Vorräten für den Fall eines Einmarsches der israelischen Armee einzudecken. Selbst auf den Bürgersteigen der mondänen Al-Hamra-Geschäftsstraße übernachten Hunderte aus Dahieh oder von der Grenze zu Israel geflohene Familien auf ausgebreiteten Pappkartons. Auch sie wissen nicht, wohin sie fliehen sollen. Premierminister Nadschib Mikati sprach während einer Kabinettssitzung von bis zu einer Million vor den israelischen Angriffen geflohenen Libanesen. »Dies ist die größte Zahl an Vertriebenen in der Geschichte des Landes«, so Nikati weiter.

Unter den in Parks, auf Stränden und Bürgersteigen Beiruts Geflohenen herrscht tiefe Trauer über den Tod von Hassan Nasrallah. Rettungskräfte hatten die Leiche des von Hisbollah-Anhängern als Vaterfigur verehrten Anführers am Sonntag in den Trümmern seines Hauptquartiers entdeckt.

In Israel verknüpft Premierminister Benjamin Netanjahu den Tod Nasrallahs mit der Hoffnung auf ein Ende der Kämpfe und insbesondere auf die Befreiung der verbliebenen israelischen Geiseln aus den Händen der Hamas. »Je mehr (Hamas-Anführer Jahja Al-) Sinwar sieht, dass Nasrallah ihm nicht zu Hilfe kommen wird, desto größer sind die Chancen für eine Rückgabe unserer Geiseln«, so Netanjahu.

Die für die nächsten Stunden erwartete Beerdigung wird zeigen, wie stark der Rückhalt der militärisch stark geschwächten Organisation im Libanon weiterhin ist.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -