- Politik
- Polizeikessel am »Tag X«
Füllhorn für Verfassungsschutz
Sachsens Geheimdienst speichert Hunderte Demonstrierende pauschal als »linksextrem«
Wegen 861-facher Freiheitsberaubung hatte das Landgericht Hamburg einst vier Polizeiführer verwarnt, die 1986 für den größten deutschen Polizeikessel verantwortlich waren. Am »Tag X« hat die Polizei vor einem Jahr in Leipzig die Zahl der Eingekesselten um fast die Hälfte übertroffen. Trotz dieser beispiellosen Einschränkung der Versammlungsfreiheit müssen aber nicht die Polizeiführer juristische Konsequenzen fürchten, sondern 1322 von ihrer Maßnahme Betroffenen: Gegen sie ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts des besonders schweren Landfriedensbruchs, da einzelne aus der Menge zuvor Beamt*innen angegriffen hätten.
Demonstriert hatten am »Tag X« in der Leipziger Südvorstadt insgesamt rund 2000 Menschen anlässlich der Verurteilung der linken Aktivistin Lina E. und drei weiterer Mitstreiter wegen Bildung und Unterstützung einer linksextremen kriminellen Vereinigung durch das Oberlandesgericht Dresden. Als »Antifa Ost« sollen sie ein Dutzend Menschen verletzt haben, zwei davon potenziell lebensbedrohlich, so die Anklage. Deshalb erhielten sie langjährige Haftstrafen.
Durch eine Klage der Transparenz- und Rechercheplattform »Frag den Staat« kam nun heraus, dass das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz die Daten von 589 Festgenommenen aus dem Polizeikessel im bundesweiten Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) speichert. Die Betroffenen wurden demnach als »linksextrem« eingestuft, berichtete »Frag den Staat« am Freitag.
»Wer geht noch auf eine Demo, wenn sie oder er danach damit rechnen muss, bundesweit in Geheimdienstdatenbanken zu landen?«.
Lukas Theune Geschäftsführer des RAV
Sachsens Geheimdienst begründet die Speicherung damit, dass die in der Menge Anwesenden »die linksextremistische Gewalt der autonomen Szene« unterstützt hätten. Die Behörde argumentiert, dass die Teilnehmer*innen sich »nicht sofort und nachhaltig« davon distanziert hätten. Allerdings befanden sich unter den Eingekesselten nicht nur Demonstrant*innen, sondern auch Anwohner*innen und Schaulustige sowie 106 Minderjährige, darunter zwei Kinder.
Das sächsische Landesamt darf lediglich Personen mit Wohnsitz in Sachsen in das NADIS eintragen. Auch die übrigen Eingekesselten könnten aber in der Geheimdienstdatei, auf die Verfassungsschutzämter aller 16 Bundesländer und des Bundes Zugriff haben, gelandet sein: Im Raum steht der Verdacht, dass andere Behörden in Absprache mit Sachsen rund 700 weitere Betroffene des Polizeikessels eingetragen haben.
Zunächst hatte sich der sächsische Verfassungsschutz komplett geweigert, »Frag den Staat« Informationen zur Datenspeicherung nach dem »Tag X« mitzuteilen. Nach einer erfolgreichen Klage hob das Oberverwaltungsgericht Bautzen jedoch ein erstinstanzliches Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden auf und verpflichtete das Landesamt zur Auskunft.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Davon umfasst sind aber nur Angaben zu den aus Sachsen stammenden Betroffenen. Weitere Enthüllungen zu dem größten deutschen Polizeikessel sind zu erwarten: »Frag den Staat« hat auch die übrigen deutschen Verfassungsschutzbehörden angefragt, ob diese in das NADIS eingetragen haben. »Unklar bleibt also zumindest fürs Erste auch, ob wir noch weitere Verfassungsschutzämter verklagen müssen, um Klarheit über diesen Punkt zu schaffen«, schreibt das Rechercheportal.
Unterdessen hat die sächsische Datenschutzbeauftragte Juliane Hundert gegenüber dem Sender MDR eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Datenspeicherung angekündigt. Dabei soll geklärt werden, inwiefern auch die Minderjährigen von der Speicherung in der Geheimdienstdatei betroffen und wie viele Unbeteiligte darunter sind.
Die über 1300 von dem Polizeikessel am 3. Juni 2023 Betroffenen mussten bis zu elf Stunden darin ausharren. Die Eingeschlossenen kritisierten die menschenunwürdigen Bedingungen, darunter fehlende Toiletten und unzureichende Versorgung mit Essen und Trinken, und berichteten von Unterkühlungen. Auch von »Frag den Staat« befreite interne Polizeidokumente belegen, dass der Einsatz teils chaotisch verlief.
Am Ende der Aufarbeitung und den Klagen von »Frag den Staat« könnte also die Frage stehen, ob eine offensichtlich unverhältnismäßige polizeiliche Maßnahme als Grundlage für die weitere Beobachtung der Betroffenen durch Verfassungsschutzämter dienen darf. Deren Datensammelwut verletze auch die Versammlungsfreiheit, kritisiert Lukas Theune, Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte-Vereins (RAV). »Wer geht noch auf eine Demo, wenn sie oder er danach damit rechnen muss, bundesweit in Geheimdienstdatenbanken zu landen?«, wird der Berliner Rechtsanwalt durch »Frag den Staat« zitiert.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.