»Die Nato ist kein System der kollektiven Sicherheit«

Bernd Hahnfeld über den Ukraine-Krieg und die Rolle des Westens bei der Eskalation des Konflikts

  • Interview: David Bieber
  • Lesedauer: 3 Min.
Nato-Offiziere aus Tschechien, Deutschland und Polen feiern die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten 1999 auf der Neiße
Nato-Offiziere aus Tschechien, Deutschland und Polen feiern die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten 1999 auf der Neiße

Gruppen der Friedensbewegung mobilisieren für den 3. Oktober zu einer Demonstration für Abrüstung und gegen Krieg. Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Gründe dafür, dass unsere Zeit so »unfriedlich« ist?

Mit dem Ende der Systemauseinandersetzung 1990 konnte man zunächst auf eine bessere Entwicklung hoffen, als wir sie heute haben. In der Charta von Paris haben die europäischen Staaten, die Sowjetunion, die USA und Kanada 1990 erklärt, ihre Zusammenarbeit künftig auf gegenseitiger Achtung und Zusammenarbeit zu gründen. Streitigkeiten sollten friedlich beigelegt werden. Bei den Verhandlungen zum 2+4-Vertrag von 1990 wurde der sowjetischen Seite zugesagt, die Nato nicht weiter nach Osten auszuweiten. Das ist leider nicht schriftlich fixiert worden. Nur wenig später zeigten einige osteuropäische Staaten Interesse an einem Beitritt zur Nato. Der Westen ging darauf ein, und so wurden zwischen 1999 und 2004 alle ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrags gegen den Protest Russlands Mitglieder. Dabei ist klar, dass die Nato das Gegenteil von einem System der kollektiven Sicherheit ist, das 1990 in Paris angekündigt wurde. Ihr Konzept beruht auf eigener Stärke und Abschreckung. Das und die Aufrüstung des Westens wie auch Russlands haben unsere Welt immer unsicherer gemacht.

Die klassische Friedensbewegung kritisiert, dass die Bundesrepublik faktisch Kriegspartei in der Ukraine ist ...

Interview


Bernd Hahnfeld ist Richter im Ruhestand und seit 45 Jahren in der Friedensbewegung aktiv. Er ist Mitgründer und Vorstandsmitglied in der deutschen Sektion der Juristen gegen Atomwaffen, IALANA (International Association of Lawyers against Nuclear Arms). Mit ihm sprach David Bieber.

Deutschland hat mit den Waffenlieferungen an die Ukraine seine Neutralität verloren, ist aber noch nicht Konfliktpartei. Es sieht den Angriffskrieg Russlands als Bedrohung der »regelbasierten Friedensordnung« in Europa und will sich an der Abwehr beteiligen. Allerdings hat sich die Bundesrepublik schon 1999 in Jugoslawien an einem völkerrechtswidrigen Krieg beteiligt, weitere Kriegseinsätze folgten. Leicht gemacht wurde das der Bundesregierung durch die verheerende »Out of Area«-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1994, mit der die Nato faktisch der Uno als System kollektiver Sicherheit gleichgestellt wurde.

Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben festgestellt, dass schon die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland von Russland als Kriegsbeteiligung gewertet werden könnte. Hat die Bundesrepublik damit und mit der Lieferung immer weiterreichenderer Waffen die entsprechende Schwelle überschritten?

Die Frage, wann Waffenlieferungen und die Ausbildung der Soldaten des angegriffenen Staates die Schwelle zur Konfliktbeteiligung überschreiten, ist schwer zu beantworten. Ein völkerrechtlich verbindlicher Kriterienkatalog existiert nicht. Der Westen interpretiert das Völkerrecht dahingehend, dass ein Staat erst Konfliktpartei wird, wenn er sich aktiv an Kampfhandlungen beteiligt.

Warum wurden Klagen gegen Regierungsmitglieder, die gegen das Angriffskriegsverbot im Grundgesetz verstoßen haben, vom Generalbundesanwalt abgewehrt? Funktioniert die Gewaltenteilung zwischen Politik und Justiz nicht?

Sie meinen die Klagen wegen der Beteiligung am Jugoslawien-Krieg 1999. Die Weigerung des Generalbundesanwalts, Strafverfahren einzuleiten, habe ich damals auch nicht verstanden. Bei der militärischen Unterstützung der völkerrechtswidrig angegriffenen Ukraine ist das anders. Damit beteiligt sich Deutschland an Verteidigung, nicht an einem Angriffskrieg. Ich bin überzeugt, dass wir eine unabhängige Justiz und eine weitgehend funktionierende Gewaltenteilung haben. Leider zeigt sich bei der höchstrichterlichen Justiz die Tendenz, in Fragen der militärischen Sicherheit und der nuklearen Teilhabe das Handeln der Regierung nicht am Grundgesetz und am Völkerrecht zu messen und die Regierung nicht an die damit verbundenen Grenzen ihres Handelns zu erinnern. Etwas mehr Courage würde der Justiz guttun.

Sie halten die erwähnte nukleare Teilhabe Deutschlands an den hierzulande gelagerten US-Atomsprengköpfen für grundgesetzwidrig. Was wäre nötig, um das Bundesverfassungsgericht hier zum Eingreifen zu bewegen?

Für Verfassungsbeschwerden ist die Vorschaltung eines verwaltungsgerichtlichen oder strafrechtlichen Rechtsstreits vorgesehen, der durch alle Instanzen geführt werden muss. Erst dann darf Karlsruhe prüfen, ob eine Grundrechtsverletzung vorliegt. Verfassungsbeschwerden gegen die Stationierung von US-Atomwaffen in Büchel sind bislang auch deshalb gescheitert. Aber das muss nicht so bleiben. Gegen Entscheidungen der deutschen Justiz kann vielleicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte helfen. Das wird von Aktiven aus Büchel derzeit versucht.

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