»Die Nato ist kein System der kollektiven Sicherheit«

Bernd Hahnfeld über den Ukraine-Krieg und die Rolle des Westens bei der Eskalation des Konflikts

  • Interview: David Bieber
  • Lesedauer: 5 Min.
Nato-Offiziere aus Tschechien, Deutschland und Polen feiern die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten 1999 auf der Neiße
Nato-Offiziere aus Tschechien, Deutschland und Polen feiern die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten 1999 auf der Neiße
Interview


Bernd Hahnfeld ist Richter im Ruhestand und seit 45 Jahren in der Friedensbewegung aktiv. Er ist Mitgründer und Vorstandsmitglied in der deutschen Sektion der Juristen gegen Atomwaffen, IALANA (International Association of Lawyers against Nuclear Arms). Mit ihm sprach David Bieber.

Gruppen der Friedensbewegung mobilisieren für den 3. Oktober zu einer Demonstration für Abrüstung und gegen Krieg. Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Gründe dafür, dass unsere Zeit so »unfriedlich« ist?

Mit dem Ende der Systemauseinandersetzung 1990 konnte man zunächst auf eine bessere Entwicklung hoffen, als wir sie heute haben. In der Charta von Paris haben die europäischen Staaten, die Sowjetunion, die USA und Kanada 1990 erklärt, ihre Zusammenarbeit künftig auf gegenseitiger Achtung und Zusammenarbeit zu gründen. Streitigkeiten sollten friedlich beigelegt werden. Bei den Verhandlungen zum 2+4-Vertrag von 1990 wurde der sowjetischen Seite zugesagt, die Nato nicht weiter nach Osten auszuweiten. Das ist leider nicht schriftlich fixiert worden. Nur wenig später zeigten einige osteuropäische Staaten Interesse an einem Beitritt zur Nato. Der Westen ging darauf ein, und so wurden zwischen 1999 und 2004 alle ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrags gegen den Protest Russlands Mitglieder. Dabei ist klar, dass die Nato das Gegenteil von einem System der kollektiven Sicherheit ist, das 1990 in Paris angekündigt wurde. Ihr Konzept beruht auf eigener Stärke und Abschreckung. Das und die Aufrüstung des Westens wie auch Russlands haben unsere Welt unfriedlich gemacht.

Die klassische Friedensbewegung kritisiert, dass die Bundesrepublik faktisch Kriegspartei in der Ukraine ist ...

Deutschland hat mit den Waffenlieferungen an die Ukraine seine Neutralität verloren, ist aber noch nicht Konfliktpartei. Es sieht den Angriffskrieg Russlands als Bedrohung der völkerrechtsrechtlich basierten Friedensordnung in Europa und will sich an der Abwehr beteiligen. Davon zu unterscheiden ist die Tatsache, dass sich Deutschland 1999 nach 54 Jahren friedlichen Zusammenlebens mit der Welt in Jugoslawien an einem völkerrechtswidrigen Krieg beteiligt hat. Weitere illegale Kriegseinsätze folgten. Leicht gemacht wurde das der Bundesregierung durch die verheerende »Out of Area«-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1994, mit der nicht nachvollziehbar das Verteidigungsbündnis der Nato einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit wie der Uno gleichgestellt wurde.

Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben festgestellt, dass schon die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland von Russland als Kriegsbeteiligung gewertet werden könnte. Hat die Bundesrepublik damit und mit der Lieferung immer weiterreichenderer Waffen eine Schwelle überschritten?

Die Frage, wann Waffenlieferungen und die Ausbildung der Soldaten des angegriffenen Staates die Schwelle zur Konfliktbeteiligung überschreiten ist schwer zu beantworten. Ein völkerrechtlich verbindlicher Katalog der Kriterien existiert nicht. Insoweit sind Staatenpraxis und Völkerrechtslehre noch nicht ausreichend entwickelt und ausdifferenziert. Bis das geschieht, wird die Frage von den gegnerischen Akteuren unterschiedlich beantwortet werden. Politisch wird der Westen das Risiko, konfliktbeteiligt zu werden durch vorsichtiges Handeln zu minimieren versuchen. Das Völkerrecht interpretiert er dahingehend, dass ein Staat erst dann Konfliktpartei wird, wenn er sich aktiv an den Kampfhandlungen beteiligt.

Warum wurden Klagen gegen Regierungsmitglieder, die gegen das Angriffskriegsverbot im Grundgesetz verstoßen haben, vom Generalbundesanwalt abgewehrt? Liegt das an der Weisungsgebundenheit der Generalbundesanwaltschaft gegenüber der Regierung? Und ist die Gewaltenteilung unter solchen Vorgaben überhaupt gewährleistet?

Sie meinen offensichtlich die erfolglosen Strafanzeigen gegen Regierungsmitglieder 1999. Damals habe ich die Weigerung des Generalbundesanwalts, gegen sie Strafverfahren einzuleiten, auch nicht verstanden. Bei der Unterstützung der völkerrechtswidrig angegriffenen Ukraine liegt der Fall anders. Den Angriffskrieg führt Russland. Mit der militärischen Unterstützung der Ukraine beteiligt sich Deutschland an der Verteidigung und nicht an einem Angriffskrieg. Zu Ihrer weiteren Frage: Ja, wir haben in Deutschland eine unabhängige Justiz und eine weitgehend funktionierende Gewaltenteilung. Leider zeigt sich bei der höchstrichterlichen Justiz die Tendenz, in Fragen der militärischen Sicherheit, des Nato-Bündnisses und der Atomwaffenrüstung das Handeln der Bundesregierung nicht am Grundgesetz und am Völkerrecht zu messen und sie gegebenenfalls nicht an die rechtlichen Grenzen ihres Handelns zu erinnern. Diese kann sich bei ihren Entscheidungen frei und unkontrolliert fühlen. Etwas mehr Courage würde der Justiz guttun. Die Staatanwaltschaft ist trotz ihrer Weisungsgebundenheit an Recht und Gesetz gebunden. Die Weisungsgebundenheit ist jedoch zunehmend in die Kritik geraten. Der EuGH hat der deutschen Staatsanwaltschaft das Recht abgesprochen, einen europäischen Haftbefehl auszustellen, da sie nicht unabhängig sei. Den Generalstaatsanwaltschaften ist die Anerkennung als vollstreckende Justizbehörde versagt worden.

Sie halten die erwähnte nukleare Teilhabe Deutschlands an den hierzulande gelagerten US-Atomsprengköpfen für grundgesetzwidrig. Was wäre nötig, um das Bundesverfassungsgericht hier zum Eingreifen zu bewegen?

Für Verfassungsbeschwerden sieht das Gesetz die Vorschaltung eines verwaltungsgerichtlichen oder strafrechtlichen Rechtsstreits vor, der durch alle Instanzen geführt werden muss. Nur dann darf das Bundesverfassungsgericht prüfen, ob eine Grundrechtsverletzung vorliegt. Alle Verfassungsbeschwerden, die die Stationierung der US-Atomsprengköpfe in Büchel und die sogenannte nukleare Teilhabe Deutschlands betrafen, sind bislang gescheitert. Das muss aber nicht so bleiben. Allerdings ist die Begründung einer Verfassungsbeschwerde juristisch anspruchsvoll und kompliziert. 98 Prozent scheitern wegen unzureichenden Vortrags, wobei die meisten gar nicht erst zur Entscheidung angenommen werden. Über die Beißhemmung des Bundesverfassungsgesetzes habe ich bereits gesprochen. Leider wird Artikel 25 des Grundgesetezes in der Rechtsprechung nicht als eigene Anspruchsgrundlage angesehen. Nach Artikel 25 sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner der Bundesrepublik. Damit sind ursprünglich auch einklagbare Ansprüche gemeint. In allen diesen Fragen sind auch Menschenrechte betroffen. Deswegen kann gegen zurückweisende Entscheidungen der deutschen Justiz vielleicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte helfen. Aktive, die seit Jahren gegen die Atomwaffen in Büchel demonstrieren, versuchen das zurzeit.

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