- Politik
- Schwerpunkt nd.Die Woche: 7. Oktober
Ohne Plan für den »Tag danach«
Die israelische Regierung hat keine Nachkriegslösung, denn sie will die Siedlungspolitik nicht aufgeben. Ein Gastbeitrag von Moshe Zimmermann
Ein Krieg, der in vollem Umfang und ununterbrochen bereits ein Jahr dauert – das gab es in Israels Geschichte noch nicht, nicht mal im Unabhängigkeitskrieg 1948 oder im »Zermürbungskrieg« 1968-70. Mehr noch: Einen Krieg auf diese Art zu führen, steht in absolutem Widerspruch zur Grundsatz-Doktrin des Staates seit seiner Gründung: Israel darf nur kurze Kriege führen und muss das Kriegsgeschehen so rasch wie möglich in das Territorium des Feindes verlegen. Die Väter dieser Doktrin gingen davon aus, dass Staaten gegen Staaten kämpfen, was weder im jetzigen Krieg gegen Gaza, gegen Hisbollah oder in den besetzten Gebieten Palästinas der Fall ist.
Keine klar formulierten Ziele
Die wegen der Ereignisse am 7. Oktober 2023 traumatisierte israelische Gesellschaft ist verwirrt, denn mit dieser Konstellation, die entstand, verlor die klassische Doktrin an Relevanz. Aus dieser traumatisierten Stimmung heraus macht sich die absolute Mehrheit dieser Gesellschaft für den Vergeltungs- oder Präventivkrieg gegen Hamas, Hisbollah etc. im Gazastreifen, im Libanon und im besetzten Westjordanland stark, ohne an die Konsequenzen zu denken. Eine einkalkulierte Konsequenz ist – selbstverständlich ohne das zuzugeben –, die Aufgabe der Geiseln, die sich in der Hand der Hamas-Terroristen befinden. Es ist also eine Flucht-nach-vorne-Reaktion ohne Kriegsbegeisterung geworden.
Was aber »vorne« bedeutet, ist unklar, weil die israelische Politik keine klar formulierten Ziele verfolgt, außer: »Hamas bzw. Hisbollah zerschlagen« zu wollen. Die Regierung verkündet auch nicht, was nach der Zerschlagung kommt, falls es so weit ist. Vielleicht geht man sogar davon aus, dass dieses Ziel sowieso unerreichbar ist und deswegen Debatten über den »Tag danach« auf jeden Fall verfrüht oder überflüssig wären.
Moshe Zimmermann ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und war dort von 1986 bis 2012 Direktor des Richard-Koebner-Minerva-Zentrums für Deutsche Geschichte. Er lebt in Tel Aviv. Seine Eltern, Hamburger Juden, sind 1937 beziehungsweise 1938 nach Palästina eingewandert. Zu den Schwerpunkten seiner Forschungen und Publikationen gehören Nationalismus, Antisemitismus und deutsch-jüdische Geschichte. Er gab eine Reihe zur deutschen Geschichte auf Hebräisch heraus, ist Autor mehrerer Bücher und war beteiligt an der Entwicklung von Lehrplänen für den Geschichtsunterricht an israelischen Schulen.
Von einem kriegführenden Staat erwartet man in der Regel einen Plan, einen Vorschlag für die neue Ordnung nach dem Krieg. So ein Plan wurde weder unmittelbar nach dem Pogrom vom 7. Oktober noch danach verkündet – bis heute nicht. Der Kampf gegen Terrorgruppen wie Hamas und Hisbollah, die sich die Zerstörung Israels als Ziel setzen, ist an und für sich legitim. Doch die israelische Politik der rechtsgerichteten Likud-Partei ist nicht darauf bedacht, den nächsten konsequenten Schritt zu wagen, nämlich mit den Palästinensern bzw. mit der palästinensischen Autonomiebehörde über eine Nachkriegsregelung zu verhandeln; denn solche Verhandlungen würden die Bereitschaft signalisieren, sich vom Westjordanland zurückzuziehen.
Und darum geht es eigentlich: Netanjahu und seine Koalition wehren sich vehement gegen die Zweistaatenlösung, in anderen Worten: gegen den Rückzug aus dem Westjordanland und die Aufgabe der Siedlungspolitik. Die extrem Rechten in der Regierung gehen noch einen Schritt weiter: Sie wollen die Annexion, träumen von Groß-Israel, in dem Palästinenser höchstens als Untertanen leben dürften. Diese Intention und diese Politik schüren nur noch mehr Hass der Palästinenser und ihrer Verbündeten auf Israel und verschaffen dem Iran die Legitimation für den Kampf gegen Israel. So gesehen, wird der Ausstieg aus dem Konflikt, zumindest aus dem aktuellen Krieg, immer unwahrscheinlicher.
Folgen für das Verhältnis zwischen Juden und Arabern
Diese Dynamik hat auch innenpolitische Folgen: So vertieft sich die Kluft zwischen der jüdischen Mehrheit und der arabisch-palästinensischen Minderheit im Kernland Israel. Der Krieg Israels gegen Gaza, gegen Libanon, aber vor allem gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten stellt diese Minderheit vor einer Zerreißprobe. In den besetzten Gebieten geht es ja nicht nur um den Kampf der israelischen Sicherheitskräfte gegen palästinensische Terroristen, sondern um viel mehr. Die besonders Radikalen in der Regierung decken die sogenannte »Hügeljugend«: Jugendliche, die im Schatten des Krieges in Gaza und im Libanon wilde Siedlungen auf den Hügeln der Westbank gründen und systematisch Gewalt gegen Palästinenser anwenden. Das kann potenziell zu Gewaltausbrüchen auch im Kernland Israel führen, zwischen beiden Bevölkerungsgruppen, wie bereits im Jahr 2021.
Netanjahu und seine Koalition wehren sich vehement gegen die Zweistaatenlösung, in anderen Worten: gegen den Rückzug aus dem Westjordanland und die Aufgabe der Siedlungspolitik.
Die israelische Politik geht also davon aus, dass sie einen Feind nach dem anderen bekämpfen muss. Im Gazastreifen, im Libanon, im Westjordanland, im Iran, am Ende sogar in Israel selbst. Die radikalen Parteien in der Regierung – allen voran die Partei der religiösen Zionisten – ignorieren dabei die Gefahr, die eine derartige Prädisposition hervorruft, sieht darin sogar eine Schwelle zu messianischen Zeiten, zur Erlösung des jüdischen Volkes. Die israelische liberale, zumeist säkulare Opposition mobilisiert zwar Hunderttausende, um gegen diese martial-messianische Strömung zu protestieren, bleibt aber am Ende eine Minderheit und kann die rechtsradikale, klerikale Regierung nicht davon abhalten, ihre Ziele weiterzuverfolgen und den Krieg ohne Plan für den »Tag danach« fortzusetzen.
Selbst die Demonstranten, die auf die Straßen gehen, um eine Waffenruhe zu verlangen, eine Waffenruhe, die die Befreiung der 101 Geiseln aus der Gefangenschaft in Gaza möglich machen sollte, bleiben erfolglos: Die Radikalen in der Regierung halten die Befreiung der Geiseln um den Preis der Freilassung palästinensischer Terroristen aus israelischer Gefangenschaft für eine Kapitulation, und lassen die Geiseln somit in den unterirdischen Tunneln von Gaza verrecken. Der immer nationalistischer und fundamentalistisch-religiöser werdende Sozialisationsprozess in Israel (wohlgemerkt: auch in der gesamten islamisch geprägten Region) lassen keine Hoffnungen auf eine Trendwende aufkommen. Der Weg zur sachlichen Auseinandersetzung, zum Kompromiss, zur Verständigung, wird von den Radikalen auf beiden Seiten versperrt.
Unkenntnis über Antisemitismus
Ähnliches kann man übrigens auch außerhalb der Region, auch in Deutschland, vorfinden. Auf den Straßen der Bundesrepublik, sogar an den Universitäten, werden Parolen skandiert, die entweder die Vernichtung Israels in Aussicht stellen oder undifferenziert auf die Unterstützung für Israels Politik bestehen. Von Sachlichkeit und Differenziertheit ist das weit entfernt. Übrigens: Sowohl bei jenen, die ihren Gegnern Antisemitismus vorwerfen, als auch bei denen, die antisemitische Parolen verbreiten, wissen die Akteure allzu oft nicht, was Antisemitismus eigentlich ist: Judenhass, Hass auf Juden als Juden, basierend auf Vorurteilen gegenüber Juden.
Nicht nur Israel und der Nahe Osten, auch Europa und der Westen leiden unter einer Pandemie, die die Grundprinzipien der liberalen Demokratie wie auch die Fundamente der internationalen Zusammenarbeit aushöhlt. Deswegen wurde auch die einzige Lösung, die die Kontrahenten in Palästina/Israel aus der Sackgasse führen kann, nämlich die Zweistaatenlösung, ad acta gelegt. Bereits vor dem 7. Oktober und erst recht seitdem.
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