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Kluge Dialektik und linke Sicherheitspolitik
nd-Serie »Die Linke: vorwärts oder vorbei?«: Zeitenwende, realitätstaugliche Politik und die Utopie des gerechten Friedens
Mit dem russischen Angriff auf das europäische Nachbarland Ukraine haben sich neue sicherheitspolitische Konstellationen ergeben, die es politisch zu reflektieren gilt. Die Besorgnis über neue Hochrüstung wächst, wie der Wunsch nach friedlichen Konfliktlösungen – in der Ukraine und Nahost. Zu Recht wurde und wird das Konzept der Abschreckung wegen seiner Dynamik als Sicherheitsdilemma im gesellschaftlichen Diskurs kritisch hinterfragt. Zugleich wirft die Rückkehr eines zwischenstaatlichen Krieges nach Europa die Frage auf, wie Sicherheit und internationale Stabilität unter veränderten Bedingungen gewährleistet werden können.
Dialektisches Denken beginnt bei der realistischen Einschätzung der neuen sicherheitspolitischen Lage. Dazu gehören die Analyse des Putin-Regimes ebenso wie die Ängste und Befürchtungen, die mit dieser politischen Wendung in Moskau in den Nachbarstaaten, aber auch weit darüber hinaus, verbunden sind. Ist eine Politik des friedlichen Ausgleichs und der globalen Kooperation bei der Beendigung von Gewaltkonflikten möglich, wenn wir es aktuell mit einem Akteur zu tun haben, der ohne Rücksicht auf völkerrechtliche Vorgaben Grenzen verschieben, seinen Machtbereich mit Zwangsmitteln erweitern und die eigenen autoritären Herrschaftsstrukturen anderen Gesellschaften verordnen will?
Putin ordnet sein expansives Handeln in eine globale Vorstellung ein, in der es um den Platz Russlands in der Welt und um eine neue Weltordnung geht, die sich nicht mehr an den als »westlich-dekadent« klassifizierten Werten und Prinzipien orientieren soll. Der Kanon der Menschenrechte soll den jeweiligen Herrschaftsinteressen untergeordnet werden.
Paul Schäfer war mehrere Jahre Mitglied des Verteidigungsausschusses für die Bundestagsfraktion der Linken.
Gerry Woop war in verschiedenen Funktionen mit sicherheitspolitischen Fragen der PDS und der Linken befasst.
Es fällt schon auf, dass die Verfechter einer neuen Entspannungspolitik einer solch nüchternen Betrachtung des heutigen russischen Regimes beharrlich ausweichen.
Es geht um das Überleben der Ukraine als unabhängiger Staat im europäischen Staatengefüge und um die Beendigung einer grenzverschiebenden Aggression. Dabei braucht die Ukraine neben humanitärer Hilfe und finanzieller Staatsstützung militärischen Beistand. Ohne die beständige und verlässliche Lieferung benötigter Waffen, um sich wehren zu können, bleibt nur die Unterwerfung unter russische Obhut und Kontrolle. Die Prüfung, was mit wirtschaftlichen und anderen Sanktionen überhaupt erreicht werden kann und mit welchen Folgen man dabei konfrontiert sein kann, bleibt auf der Tagesordnung.
All dies macht die Entspannungspolitik der 70er Jahre nicht grundsätzlich obsolet. Auch in der Zukunft bleibt Russland ein bedeutender Akteur und Nachbar auf dem europäischen Kontinent, der in einer internationalen Sicherheitsstruktur von Nato, EU, OSZE und Einzelstaaten eingebunden sein muss. Die wichtigen vertraglichen Vereinbarungen zu Abrüstung und Sicherheit sind derzeit auf Eis gelegt und doch ist ihre Reaktivierung elementar. Die Basis für eine »neue Friedensordnung« kann aber nur darin liegen, dass die 1975 in der KSZE-Schlussakte von Helsinki (wie in der UN-Charta schon zuvor) niedergelegten Prinzipien des Völkerrechts wieder verlässlich gelten. Die Beendigung der russischen Aggression und der Widerruf der Annexionen ist dabei zentral.
Es ist schon seltsam, wie leichtfertig diejenigen, die ein Eingehen auf die russischen Positionen befürworten, bereit sind, diese Grundsätze aufzugeben und stattdessen auf vertraute Erklärungsmuster »vom bösen Westen« zurückgreifen. Der Vorwurf, »der Westen« habe die russische Föderation zu lange gedemütigt und übergangen, enthält Richtiges und ist doch grundfalsch. Wahr ist, dass man sich zu lange die Entwicklung in Russland schöngeredet und an »normalen Beziehungen« festgehalten hat.
In Widersprüchen zu denken heißt in diesem Fall eben auch, dass man Aktivitäten der Nato oder einzelner ihrer Mitglieder in der Vergangenheit scharf kritisieren kann, zugleich aber Unterstützungsleistungen dieser Staaten für den ukrainischen Verteidigungskampf billigt. In Widersprüchen zu denken heißt auch, dass man erfolgreiche Prinzipien der Entspannungspolitik – Vertrauensbildung, Dialog, Abrüstung – verteidigen, die stupiden Konzepte einer Neuauflage des Kalten Krieges ablehnen und zugleich neue Anforderungen an eine abwehrbereite Sicherheitspolitik formulieren kann.
Die Linkspartei steckt tief in der Krise, braucht neues Führungspersonal und dringend einen neuen Aufbruch. Aber wie und wohin? »nd« startet eine Debattenserie über Probleme und Perspektiven: »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« Alle Texte der Serie finden Sie hier.
Es geht dabei nicht nur darum, die Unabhängigkeit der Ukraine zu verteidigen. Der mehr als besorgniserregende Aufschwung extrem rechter Parteien und Regierungen in Mittel- und Osteuropa, aber in der EU insgesamt, muss Linke aufrütteln. Diesen Strömungen ist gemein, dass sie gerne EU-Gelder einkassieren wollen, zugleich aber daran arbeiten, die Grundwerte der Demokratie, des Rechtsstaates und der Menschenrechte zu demontieren. Es ist konsequent, wenn sie sich dabei an das präfaschistische Russland und ihren Gesinnungsfreund Putin anlehnen. Dieser Rechtsdrift muss man sich entgegenstellen, statt sie durch Übernahme demokratiekritischer Frames faktisch zu stärken. Eine Linke, die ihre antifaschistische Grundhaltung aufgibt oder auch nur abschwächt, hat ihre Existenzberechtigung verloren.
Historische Vergleiche sind immer schwierig, aber es gehört zur historischen Wahrheit, dass vor 80 Jahren die Alliierten mit finanzieller Unterstützung, mit Waffenlieferungen an die Sowjetunion und dem gemeinsamen militärischen Agieren den Sieg über die NS-Diktatur erreicht haben. Nun ist es leider so, dass Ukraine-Solidarität, Wiederaufbau und Abwehrbereitschaft einen Preis haben. Der ist angesichts der zerstörerischen Wut, die den Feldzug der russischen Armee kennzeichnet, beträchtlich. Dies in der EU durchzuhalten, ist eine extreme politische Herausforderung. Aber sich wohlstandschauvinistisch heraushalten zu wollen, ist keine linke Option.
Gleichwohl ist es so, dass im Abwehrkampf mit Umsicht und Vernunft agiert werden muss. Dies ist gerade mit Blick auf immer gegebene Eskalationsgefahren in Kriegen immens wichtig. Die Aktionen der Ukraine und ihrer Unterstützer insoweit auch mit kritischen Augen zu verfolgen, ist sinnvoll. Dass sich auf dem Kriegsschauplatz ein schlimmer Abnutzungskrieg entwickelt hat, ist mit Blick auf die bestehenden Kräfteverhältnisse nicht überraschend. Ein Anlass, jetzt die Solidarität mit der Ukraine aufzukündigen, ist dies nicht. Die Notwendigkeit, verstärkt nach diplomatischen Auswegen zu suchen, bleibt indes.
In der hiesigen Medienwelt gibt es die übermächtige Neigung, nur noch in den Kategorien militärischer Logiken zu denken. Dem ist immer wieder entgegenzuwirken. Schon heute muss – natürlich nicht ohne Abstimmung mit der ukrainischen Regierung – nach Mitteln und Wegen gesucht werden, um das andauernde Gemetzel möglichst rasch auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Schon heute muss versucht werden, Russland langfristige Anreize zu bieten, die einen Friedensschluss für das Land attraktiv machen. Schon heute muss über eine neue europäische Sicherheitsordnung ohne Hochrüstung für die Zeit nach dem Krieg nachgedacht werden.
Aber es kann kaum Zweifel daran bestehen, dass es neben Waffenlieferungen für die EU- und Nato-Staaten auch darum geht, gegenüber äußeren Aggressionen abwehrbereit zu sein bzw. Russland von möglichen Attacken abzuhalten. Die Umrüstung der Bundeswehr, der Nato-Streitkräfte insgesamt auf diesen Auftrag und eine entsprechende Aufstellung der Streitkräfte in der Fläche (u.a. Baltikum!) sind zwingend.
Was dafür tatsächlich gebraucht wird, ist Teil des politischen Streits. Eine Linke, die mit- und umgestalten will, wird sich hier sachkompetent einmischen und auf größtmögliche Effizienz und Augenmaß drängen. Auch linke Politik wird so auf den Wunsch der Bevölkerung nach Sicherheit eingehen müssen. Sich heraushalten zu wollen, da man nicht in Regierungsverantwortung steht, ist keine ernsthafte Option.
Die sich herausbildende multipolare Weltordnung, in der um die normativen Grundlagen und die Machtverteilung gestritten wird, wirft unausweichlich die Frage der künftigen Rolle der EU in der Welt auf. Eins vorweg: Europäische Atomwaffen sind Nonsens. Aber: Soll sich die EU auf einen engen Handlungsrahmen zurückziehen, der durch die Verteidigung der eigenen Prosperität und ausschließlich zivile Beiträgen zur Friedensstabilisierung (»Zivilmacht«) charakterisiert ist? Eine solche Mischung aus friedenspolitischem Biotop und Wohlstandsfestung dürfte – von der Nicht-Wünschbarkeit ganz abgesehen – wenige Anhaltspunkte in der Realität finden.
Nein, die EU sollte sich – an der Seite von Bündnispartnern aus anderen Kontinenten – auf eine multilaterale Ordnung unter dem Dach der Vereinten Nationen orientieren. Sie braucht dabei auch mehr Gewicht in der internationalen Friedenssicherung. Die Europäische Union wird nur in eine Rolle als Mittler und als Friedensgarant hineinwachsen können, wenn sie bereit und in der Lage ist, dafür nötige Dienstleistungen bereitzustellen – z.B. auch Kontingente zur Überwachung und Garantierung von Friedensabkommen.
Die Gemeinsame Außenpolitik der EU sollte sich prioritär auf die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und auf Konfliktprävention durch fairen Handel, Diplomatie sowie Abrüstung und Vertrauensbildung stützen. Die Notwendigkeit einer effizienteren Verteidigungsunion bleibt dennoch. Konzepte der staatlichen Lenkung von Rüstungsplanungen, zum Verhältnis zur Nato, zu Resilienz oder zur internationalen Wirtschaftskoordinierung gehören dazu. Offene Fragen gibt es auf diesem Feld in Hülle und Fülle. Leider ist die Europäische Linke in dieser Hinsicht uneins und sprechunfähig. Soll das so bleiben?
In dieser Dialektik von ernsthafter sicherheitspolitischer Analyse, der Kritik eines eng auf Militär und Konfrontation gerichteten Denkens und der Neukonzipierung einer realitätstauglichen Sicherheitspolitik, die die Utopie des gerechten Friedens fest im Blick behält, liegt die Herausforderung für linke Sicherheitspolitik. Die Versuchung, die am Abgrund stehende Partei Die Linke mit populistischer und vereinfachender Friedenspolitik ohne sicherheitspolitischen Realbezug reanimieren zu wollen, ist groß. Ihr sollte widerstanden werden, wenn man auf eine Linke hofft, die sich künftig nicht nur rhetorisch-radikal einmischen will.
In der Serie »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« erschien zuletzt: »Für eine offene und solidarische Gesellschaft« von einer Gruppe flucht- und migrationspolitischer Fachleute der Linken.
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