Archäologie des Imaginären

Vor 100 Jahren erschien das erste surrealistische Manifest

  • Julius Twardowsky
  • Lesedauer: 5 Min.
Karikatur zu den Spannungen zwischen Surrealisten und Kommunisten, obwohl Letztere auch Surrealisten in ihren Reihen hatten.
Karikatur zu den Spannungen zwischen Surrealisten und Kommunisten, obwohl Letztere auch Surrealisten in ihren Reihen hatten.

Am 15. Oktober 1924 blies André Broten, beeinflusst vom expressionistischen Symbolismus und der Psychoanalyse Sigmund Freuds, zum Generalangriff auf den Konformismus der bürgerliche Kunst- und Moralvorstellungen – das erste Manifest des Surrealismus trat in die Welt. Im Namen der Fantasie und angereichert durch die Kräfte des Unbewussten, galt es, die Trennung von Traumwelt und Wirklichkeit zu überwinden und in eine neue Art von Realität zu überführen: die Surrealität. Ausgehend von der künstlerischen Praxis sollte diese letztlich zu einer revolutionären Umwälzung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und der menschlichen Lebens- und Wahrnehmungsweise beitragen, die ganz auf die Befreiung des individuellen Ausdrucks abzielte. Damit war der Surrealismus ein beispielloses Phänomen künstlerischer Revolte der europäischen Zwischenkriegszeit, die – nachdem ihr der deutsche Faschismus ein frühzeitiges Ende bereitet hat – bis heute ihresgleichen sucht.

Der Surrealismus wirkte nicht nur revolutionär auf die bildenden Künste und die Literatur, auch der Philosophie diente er bisweilen als Kraftquelle: Für Walter Benjamin war der Surrealismus »die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, ein letztes Aufbäumen der bürgerlichen Emanzipation im Moment ihres selbst verschuldeten Untergangs im Weltkrieg. In der surrealistischen Bewegung, die die ästhetische Praxis ins Politische trieb und in die Kooperation mit der Arbeiterbewegung beziehungsweise der Kommunistischen Partei Frankreichs führte, sah er die bürgerlichen Freiheitsideale ein letztes Mal radikal realisiert. Benjamin erhoffte sich von deren Bindung an den institutionalisierten Kommunismus eine Synthese von ästhetischer und revolutionärer Praxis im Kollektiv; ein Irrtum, dem auch die Surrealisten eine Zeitlang aufsaßen.

Rückblickend stellten sich diese Hoffnungen, durchkreuzt vom Nationalsozialismus, als illusionär dar. Theodor W. Adorno, der schon vor dem Krieg mit Benjamin über die Möglichkeiten des revolutionären Marxismus stritt, verweist den Surrealismus nach der eingetretenen Katastrophe schließlich auf die Müllhalde der Geschichte. Gegen dieses vernichtende Urteil, verwies eine seiner Schülerinnen, die Philosophin und Literatursoziologin Elisabeth Lenk, jedoch auf das nach wie vor unabgegoltene Freiheitsideal des Surrealismus sowie auf die innige Wesensverwandtschaft zwischen Kritischer Theorie und surrealistischer Praxis.

Der Surrealismus wirkte nicht nur revolutionär auf die bildenden Künste und die Literatur, auch der Philosophie diente er bisweilen als Kraftquelle.

Nachdem Elisabeth Lenk Anfang der 60er Jahre nach Paris gezogen war, um, wie sie selbst schreibt, dem »System« Adornos zu entkommen und eine soziologische Promotion über die dortige Streikbewegung vorzubereiten, lernte sie Breton kennen und gehörte bis zu dessen Tod selbst der »Groupe surréaliste« an. Die Begegnung mit den Surrealisten beeindruckte sie tief und führte zu einer Änderung ihres Promotionsvorhabens: Thema war nunmehr der »poetische Materialismus« in Bretons literarischen Schriften. Ihr Interesse galt dabei der ästhetischen Kunstproduktion, nicht als Einzelphänomen, sondern als Resultat eines soziologischen Gruppenprozesses, den sie bei den avantgardistischen Bewegungen am Wirken sah.

Bereichert durch die Rezeption des französischen Poststrukturalismus, darunter Foucault, Derrida, Deleuze, aber besonders unter dem Eindruck Georges Batailles, entstand ihr wahrscheinlich wichtigstes Projekt: »Die unbewußte Gesellschaft«. In dieser Arbeit rückte Elisabeth Lenk ein zentrales Moment des Surrealismus, nämlich den Traum, verstanden als ästhetisches Phänomen, in den Vordergrund. Thema des Buches war es, der Spur der Verdrängung des Traumes in der rational eingerichteten Gesellschaft zu folgen, um ganz im Sinne der Kritischen Theorie die verbliebenen Momente des Heterogenen und Nicht-Identischen darin aufscheinen zu lassen. Nur ausgehend von einer solchen »Archäologie des Imaginären«, so die deutsche Literaturwissenschaftlerin und Soziologin, wäre eine andere Gesellschaft zu denken.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Schon mit der Fokussierung auf den empirischen, nächtlichen Traum, kündigte sich bei Elisabeth Lenk eine Denkbewegung an, die sie weg von der Faszination für Gruppendynamiken führte und zunehmend eine Wendung zu individuellen Denk- und Handlungsweisen einleitete. In Analogie zu Marx’ Klassenbewusstsein und ausgehend von der Frühsozialistin Flora Tristan, prägte sie den Begriff des »Pariabewusstseins«. Zentral für diese Begriffsbildung ist die Verschiebung einer erkenntnistheoretischen Position: Wahre Aussagen über die Gesellschaft lassen sich nur von einem Punkt der Exteriorität aus treffen. Das Aufgehen im Kollektiv oder der Gruppe dagegen beinhalte immer eine affirmative Haltung, kritisch bleibt allein die oder der Außenseiter*in.

Dieser Standpunkt wird in einer späteren Auseinandersetzung von Elisabeth Lenk mit Adorno weiter vertieft. Ausschlaggebend für diese Rückbesinnung war der Kollaps des realen Sozialismus, ein Ereignis, das, so die Wissenschaftlerin, »alle Schubfächer durcheinander gebracht [hat], die wir Marxisten in unseren Köpfen errichtet hatten«. Erledigt hatte sich damit die Vorstellung von der planvollen Veränderbarkeit der Welt. Entgegen Adornos Diktum, dass Praxis auf unabsehbare Zeit vertagt sei, will Elisabeth Lenk jedoch an einer revolutionären Perspektive festhalten. Gemeint ist damit eine Revolution der sinnlichen Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen im Sinne des Surrealismus, die gegen den Marxismus nicht bei den Massen, sondern beim Individuum ansetzen würde. Im Bewusstsein des Imperativs Adornos – »dass Auschwitz nicht sich wiederhole« – wäre diese Revolution eine des symbolischen Handelns, das der Geste, der Zärtlichkeit und Rücksicht; insofern eine auf der Abscheu vor jeglicher Gewalt basierende ästhetische Praxis, die damit ins Ethische kippt.

Zur Praxis der Kritischen Theorie wird der Surrealismus auch deshalb, weil beide Denkbewegungen den negativen Standpunkt des Nonkonformismus teilen. Elisabeth Lenk ist es zu verdanken, diesen Zusammenhang ausgearbeitet zu haben. Die schwierige Aufgabe, die sie hinterlässt, ist, dass die Aktualisierung der uneingelösten Versprechen von Kritischer Theorie und Surrealismus im je aktuellen Stand der Vergesellschaftung immer aufs Neue geleistet werden muss. Da, wie sie selber schrieb, sich die Gesellschaft an ihren Außenseiter*innen durch Vergessen rächt, ist auch ihr Werk davon bedroht. Ihr und zum Wohle dieser Gesellschaft wäre es zu wünschen, dass dies nicht geschieht, dass der Traum der befreiten Gesellschaft weiterhin geträumt werde.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.