Faschismus in Deutschland: Ressentiments und Projektionen

Der Faschismus ist in Deutschland wieder salonfähig. Maria Johne sieht hier Kontinuitäten, die über Generationen vererbt wurden

  • Interview: Zain Salam Assaad
  • Lesedauer: 7 Min.
Vati erklärt die Welt – und da kam der Nationalsozialismus häufig eher weniger vor.
Vati erklärt die Welt – und da kam der Nationalsozialismus häufig eher weniger vor.

Frau Johne, was meinen Sie mit dem »unbewussten Bewussten«, wenn Sie über die Kontinuitäten des Faschismus sprechen?

Wir Psychoanalytiker beschäftigen uns intensiv mit dem Unbewussten, da es das Denken, Fühlen und Handeln stark mitbestimmt. Dies formt sich durch Erziehung, Umwelteinflüsse und gesellschaftliche Bedingungen. Ich untersuche, wie gesellschaftliche Verhältnisse und innerpsychische Prozesse zu transgenerationalen Traumata beitragen und sich in aktuellen politischen Einstellungen widerspiegeln.

Wer sind die »Wendekinder« und wie prägt die NS-Vergangenheit ihr familiäres Erbe?

Psychoanalytisch betrachtet wurden Kinder der Nazitäter oft dazu gebraucht, ihre Eltern vor der Frage zu schützen, was diese in der Nazizeit getan haben. Das belegen zahlreiche Patientengeschichten. So wurde in vielen Familien die Täterschaft transgenerational an die zweite und dritte Generation weitergegeben. Diese Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde und Eltern aus der Nazizeit hatte, war zur Wende die Elterngeneration. Wendekinder sind also diejenigen, die Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre in der DDR geboren wurden. Sie verbrachten noch einen Teil ihrer Kindheit in der DDR, wurden mit den Erziehungsmethoden der SED konfrontiert und erlebten dann mitten in ihrer Kindheit und Jugend die Wende. Plötzlich galten zu Hause und in der Schule völlig unterschiedliche Wertmaßstäbe.

Interview

Maria Johne ist Diplompsychologin und als Psychoanalytikerin Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) und der Internationalen Psycho­analy­tischen Vereinigung (IPA). Von 2017 bis 2019 war sie Vorsitzende der DPV, seit 2021 ist sie Vorsitzende der Stiftung der DPV. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den psycho­lo­gi­schen Auswirkungen der deutschen Geschichte – von der NS-Zeit bis zur Wende – auf »Wendekinder« sowie heutige Generationen in Ostdeutschland.

Gab es immer klare Unterschiede im Umgang mit NS-Verbrechen in Ost- und Westdeutschland?

Anfangs verlief es in Ost- und Westdeutschland ähnlich: Die Verbrechen wurden verdrängt und verschwiegen und nicht anerkannt. Nach Nicolas Abraham und Maria Torok ging diese Verdrängung schließlich über ein bloßes Vergessen oder Leugnen bei den Nazitätern hinaus. Da bildete sich eine innerseelische »Krypta«, in welche die Verbrechen und die damit verbundenen Emotionen eingeschlossen wurden. An diese innere Krypta durfte niemand rühren. Dies verhinderte die persönliche Verantwortungsübernahme vieler Deutscher für ihre Beteiligung an den NS-Verbrechen.

Warum ist es wichtig, gerade auf Ostdeutschland zu schauen?

Ich konzentriere mich auf Ostdeutschland, da ich dort aufgewachsen bin. Nach dem Ende des Nationalsozialismus und des verlorenen Krieges entstanden durch das Viermächteabkommen zwei getrennte deutsche Staaten. In der sowjetischen Besatzungszone entwickelte sich eine Diktatur, geprägt durch den Stalinismus der frühen 50er Jahre. Anfangs war es ehemaligen NSDAP-Mitgliedern verboten, der SED beizutreten, doch bald waren 15 Prozent der SED- Mitglieder ehemalige Mitglieder der NSDAP. Sie passten sich den neuen Machtstrukturen an, um ihren Verlust und die narzisstische Kränkung nach dem Krieg zu kompensieren. Es entstand der Mythos, die Schuld liege nicht in der DDR, da diese kein kapitalistischer Staat mehr sei. Das verhinderte eine persönliche Verantwortungsübernahme, obwohl es Nazis auch dort gab – wie in sehr vielen deutschen Familien. Auf familiärer Ebene gab es tragische Folgen, da die persönliche Schuldübernahme für begangene Verbrechen nur sehr begrenzt möglich war. In Westdeutschland führte hingegen die 68er-Bewegung dazu, dass Kinder ihre Eltern fragten: »Was habt ihr im Nationalsozialismus getan?« Schuldübernahme, Wiedergutmachung und ein notwendiger Trauerprozess fanden in Ostdeutschland nicht in der Art statt. Das wäre auf persönlicher und familiärer Ebene wichtig gewesen, da die narzisstische Kränkung der deutschen Bevölkerung durch den verlorenen Krieg und den Verlust des Idols Adolf Hitler tiefe Spuren hinterlassen hat.

Wie hat die Wende die Identität der Wendekinder geprägt?

Durch die Wende kam es in Ostdeutschland zu einer zweiten narzisstischen Kränkung: Viele ehemalige DDR-Bürger verloren ihre Arbeitsplätze und die Identität, die sie in der DDR aufgebaut hatten. Eltern konnten ihren Kindern oft keinen stabilen Rahmen bieten, da sie selbst mit den großen Umwälzungen der 90er Jahre beschäftigt waren. Diese Kränkung führte bei einigen Jugendlichen der Wendegeneration zu Orientierungslosigkeit und Radikalisierung. Rechte Bewegungen waren für sie besonders attraktiv. Wie Adorno treffend sagte, ist der Nationalsozialismus nicht vergangen, sondern lebt in autoritären Charakteren weiter.

Wie lebt der autoritäre Charakter weiter?

Er wurde oft durch Erziehung transgenerational weitergegeben. Nach der Wiedervereinigung zeigte sich, dass Nazis sowohl in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland existierten, und die Frage nach dem NS-Erbe stellte sich erneut: War es bisher nur oberflächliches Erinnern oder hatte auch eine innere psychische Bewältigung stattgefunden?

Welche Rolle spielen Schuldgefühle wegen der NS-Vergangenheit in dieser politischen Haltung?

Die Nichtanerkennung der Schuld der Nazitäter führte bei ihren Kindern zu starker Schuldabwehr: Täter vermieden innerfamiliär die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und gaben ihre Schuldgefühle an die nächste Generation weiter. Kinder verhinderten unbewusst, dass sich die Eltern mit ihrer Schuld beschäftigten – litten aber selbst darunter. Die Anerkennung der Kollektivschuld wäre der richtige Weg gewesen, doch bis in die 90er Jahre hinein war die Schuldabwehr – besonders in Ostdeutschland – stark ausgeprägt. Die dritte Generation ging dabei unterschiedliche Wege, oft geprägt von einer tief empfundenen Scham, wenn Deutsche etwa im Ausland aufgrund der NS-Vergangenheit schief angeschaut wurden. Ihre Großelterngeneration lebte in den 90ern oft noch und unterstützte teils bewusst die Aktivität ihrer Enkel in rechtsextremen Gruppen. Die alte Kränkung über den Zusammenbruch des Nationalsozialismus und der Wunsch nach diesem »großen« Deutschland konnten in rechtsradikalen Gruppen wiederbelebt werden. Diese Ideologie, sichtbar bis heute in der AfD-Propaganda, breitet sich wieder bis in die Mitte der Gesellschaft aus: Deutschland soll wieder »überlegene Herrenmenschen« hervorbringen, die angeblich besser sind als Migranten. Das ist eine große Gefahr für die Demokratie.

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Wie erklären Sie den Aufstieg der AfD?

Die Unterschiede, besonders in Bezug auf materielle Ressourcen und gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten, sind zwischen Ost und West immer noch groß. Ostdeutsche haben geringere Aufstiegschancen. Viele Angehörige ostdeutscher Eliten sowie deutlich mehr Frauen wanderten nach der Wende ab, was ein starkes demografisches Ungleichgewicht hinterließ. Zurück blieben oft weniger gut ausgebildete Männer, besonders im ländlichen Raum, von denen heutzutage ein hoher Anteil die AfD wählt. Die Partei bietet einfache Antworten auf komplexe Fragen. Diese Männer finden sich auch deshalb in rechten Gruppen zusammen, weil dort ein traditionelles – wenn auch überholtes – Männerbild propagiert wird.

Warum radikalisieren sich derzeit junge Menschen im Osten?

Es gibt eine tiefe Unzufriedenheit in Ostdeutschland, die nicht wirtschaftlich bedingt ist. Oft wird behauptet, die Regierung kümmere sich nicht um Ostdeutsche und behandle sie als Bürger zweiter Klasse. Das wird oft in den Familien weitergegeben. Zugleich lebte man in der DDR in einer geschlossenen Gesellschaft, in der es kaum Berührungspunkte mit Menschen aus anderen Kulturen gab – obwohl diese ja da waren, nur eben weitgehend segregiert. Hinzu kommt die Illusion, dass Migranten mehr Unterstützung erhalten als Ostdeutsche. Zudem haben sich Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Judenhass aus der NS-Zeit über die Jahrzehnte bei vielen innerfamiliär weiter verfestigt.

Wie verstärken Projektionen rassistische und antisemitische Einstellungen?

Alles, was einem nicht gelingt, kann auf andere Gruppen projiziert werden, die unerwünscht erscheinen. Tradierte Ressentiments verstärken diese Haltung, besonders gegenüber als fremd markierten Menschen. Dies führt schnell zu der Haltung, »Die nehmen einem etwas weg«, ohne tatsächlichen Kontakt zu diesen Menschen. In populistischen Bewegungen wirken Ressentiments stärker als Projektionen, oft gepaart mit Neid und dem Frust der älteren Generation. Interessanterweise definieren sich viele junge Menschen im Osten als »Ostdeutsche«, obwohl sie weder in der DDR geboren wurden, noch dieses Land überhaupt existiert. Trotzdem gibt es ein starkes, familiär weitergegebenes Identitätsgefühl.

Wie steht es um die Erinnerungskultur in Deutschland?

Obwohl es teils eine gute Aufarbeitung der Vergangenheit gibt, besonders in historischen und künstlerischen Bereichen, entstand in Deutschland eine Überlegenheitsillusion, dass die NS-Schuld vollständig aufgearbeitet sei. So glaubte man etwa in Sachsen in den 90er Jahren, immun gegen Rechtsradikalismus zu sein, was wiederum zu mangelnder gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit den NS-Kontinuitäten führte. Rassistische Pogrome und Fälle wie die NSU-Morde zeigen jedoch, dass das nicht der Fall ist. Außerdem bedarf es einer ernst gemeinten Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, um die transgenerationale Weitergabe von Ressentiments im Osten zu verstehen.

»Schuldübernahme, Wiedergutmachung und ein notwendiger Trauerprozess fanden in der DDR nicht wirklich statt.«

Maria Johne Diplom-Psychologin
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