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»Geschützt von den Lagermüttern«

Erst mit 42 Jahren begann Ingelore Prochnow ihre Geschichte zu rekonstruieren

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Holocaust-Überlebende Ingelore Prochnow nimmt an der Zentralen Gedenkveranstaltung anlässlich des 79. Jahrestages der Befreiung des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück teil.
Die Holocaust-Überlebende Ingelore Prochnow nimmt an der Zentralen Gedenkveranstaltung anlässlich des 79. Jahrestages der Befreiung des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück teil.

In Ihrem Ausweis steht, dass Sie in Ravensbrück zur Welt gekommen sind. Wann haben Sie das erste Mal darüber nachgedacht, dass Sie in einem Konzentrationslager geboren sein könnten?

Für mich war Ravensbrück immer nur ein Ortsname in meinem Ausweis. Auch nachdem ich irgendwann gelesen hatte, dass es dort eine Gedenkstätte für ein ehemaliges Konzentrationslager gibt, brachte ich das nicht mit mir in Verbindung. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass dort Kinder geboren wurden und ich solch ein Kind sein sollte. Das habe ich erst 42-jährig, nach dem Tod meiner Adoptiveltern, aus meinen Pflege- bzw. Adoptionsunterlagen erfahren.

Warum sind Sie nicht früher auf Spurensuche gegangen?

Meine Adoptiveltern haben meinen Fragen einen Riegel vorgeschoben. Meine Adoptivmutter hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich nie nach meiner leiblichen Mutter suche. Da war ich 12, 13 Jahre alt. Sie erzählte mir, dass ich ein uneheliches Kind sei, von einem Vater war nie die Rede. Brav und artig wie ich war, habe ich mich daran gehalten, auch wenn ich innerlich wusste: Irgendwann würde ich beginnen, nach meinen Wurzeln zu suchen.

Interview

Ingelore Prochnow, Jahrgang 1944, ist im Konzentrationslager Ravensbrück zur Welt gekommen, wuchs ab 1947 bei Pflege- und später bei Adoptiveltern auf. Ihre Geschichte wird nun Teil der Wanderausstellung »Trotzdem da!«, die Anfang Dezember in der Gedenkstätte Sandbostel vorgestellt wird.

Warum haben Ihre Adoptiveltern Sie gebremst?

Meine Adoptiveltern wussten aus meinen Unterlagen vom Jugendamt, dass ich aus einer deutsch-polnischen Beziehung stamme und mich die Mutter im KZ zur Welt gebracht hat. Sie haben mich bestimmt auf ihre Art geliebt, aber sie wollten kein Gerede in Lemgo, der Kleinstadt, wo sie lebten. Das, was die Leute sagen und denken, war ihnen immer sehr wichtig. Als die beiden 1985 beziehungsweise 1986 starben, da wusste ich: Jetzt ist der Weg frei.

Was haben Sie als Erstes getan?

Ich bin nach Detmold zum Archiv des Jugendamtes gefahren und habe mir meine Akte heraussuchen lassen. Da erfuhr ich den Namen meiner Mutter, Renate Rohde, und den Ort meiner Geburt am 5. April 1944: Konzentrationslager Ravensbrück. Das war der Auftakt meiner Spurensuche.

Ihr erstes Lebensjahr verbrachten Sie also in einer Baracke des Konzentrationslagers Ravensbrück?

Ja, und ich war nicht die Einzige. Eugenia, eine Ukrainerin, wurde im Januar 1944 geboren, ich drei Monate später im April. Auch sie hat gemeinsam mit ihrer Mutter überlebt, weil sie kollektiv von den Lagermüttern geschützt wurde. Es gibt noch weitere Kinder, die in Ravensbrück geboren wurden, aber keines hat auch nur annähernd so lange im Lager überlebt wie wir beide.

Diesen Teil Ihrer Biografie haben Sie minutiös rekonstruiert. Welche Bedeutung hatten dabei die Lagermütter?

Eine zentrale, denn die Ravensbrückerinnen haben erst dafür gesorgt, dass ich und Eugenia überleben konnten. Später haben sie mich immer wieder bei meiner Suche unterstützt, mich mit offenen Armen empfangen, geholfen, wo sie konnten. Da kommt unser Kind, hieß es! Das war sehr berührend, denn meine Mutter wollte mich nicht haben, sie hat mich in der Silvesternacht 1946/47 allein in einem Auffanglager in Siegen/Westfalen zurückgelassen. Ich habe die Kopien unserer Registrierkarten, und auf der Karte meiner Mutter Renate Rohde steht der handschriftliche Vermerk »Lager verlassen, Kind zurückgelassen«.

Hat Ihnen Ihre Mutter, die sie 1986 ausfindig machten und mit der sie ein erstes Treffen auf dem Bahnhof Essen verabredeten, das erklären können?

Nein, unser Treffen war niederschmetternd. Gerade weil ich so viele Hoffnungen und Sehnsüchte in dieses Treffen gesetzt hatte. Meine Mutter Renate Rohde wollte nichts von mir wissen, und alle meine Fragen an sie blieben unbeantwortet, obwohl mein Mann Klaus Prochnow beim zweiten Treffen in Stuttgart als Vermittler dabei war. Das war extrem bitter, und als ich sie Jahre später bei einer Gedenkveranstaltung in Ravensbrück ein drittes und letztes Mal sah, bin ich ihr aus dem Weg gegangen. Ich hatte mich entschieden, meine Spurensuche allein fortzusetzen, ohne ihre Mithilfe.

Waren Sie regelmäßig in Ravensbrück?

Ja. 1990, sofort nach der Wende, zum ersten Mal und seitdem fast jedes Jahr zur Befreiungsfeier im April. Einmal nahm mich eine alte Überlebende in den Arm und sagte: Du musst nicht weinen, hier in Ravensbrück hast du viele Mütter gehabt – deine junge Mutter hätte dich nicht allein am Leben halten können, da hat der ganze Block mitgeholfen. Frauen haben dich gewärmt, in den Arm genommen, sich Essen vom Mund abgespart, dich mit Stofffetzen zugedeckt, versteckt, getröstet. Dein erstes Lebensjahr hier war vielleicht gar nicht das schlechteste. Das hat mich getröstet.

Was haben Sie bei Ihren Recherchen über Ihre Mutter Renate Rohde herausbekommen?

Sie war 19 Jahre alt und im fünften Monat schwanger, als sie in das KZ Ravensbrück, das größte Frauen-Konzentrationslager, eingeliefert wurde. Sie war ein unschuldiges Opfer der Nazis, und ich kann ein wenig nachvollziehen, dass sie mich 1946 in Siegen in der Silvesternacht zurückgelassen hat. Vielleicht wollte sie ein eigenes Leben führen, ohne ein kleines Kind an der Hand. Die andere Seite der Medaille ist, dass sie sich in ein Konstrukt von Lügen verstrickt hat, um zu erklären, warum sie mich zurückgelassen hatte. Vielleicht wusste sie selbst kaum mehr, was wahr und was gelogen war. Sie hat meine Recherche auch ganz bewusst blockiert.

Sie haben Ihre Biografie trotzdem rekonstruiert – wie ist das gelungen?

Durch Recherche, das Abklappern von Archiven. Doch erst als meine Mutter 2001 starb, bekam ich Klarheit, wer mein Vater war. Erst mit ihrer Sterbeurkunde in der Hand öffnete sich auch das Archiv des Internationalen Roten Kreuzes in Bad Arolsen. Da erfuhr ich 2011, mit 67 Jahren, dass mein Vater Jan Gawronscy hieß. Bereits 1986 hatte ich das Archiv angeschrieben, aber meine Mutter hatte die Herausgabe der Daten untersagt und so ein potenzielles Treffen verhindert, denn selbst seine Adresse war bekannt. Mein Vater ist bereits 1996 verstorben, und natürlich weiß ich nicht, ob es gut gegangen wäre, wenn ich ihn getroffen hätte. Inzwischen weiß ich, dass es noch einen Sohn gibt, also einen Halbbruder von mir, und auch Enkelkinder. Ich habe es aber unterlassen, den Kontakt zu diesem Teil meiner Familie aufzunehmen.

Warum?

Nach den Erfahrungen mit meiner Mutter scheue ich eine neuerliche Ablehnung. Ich habe aber eine polnische Historikerin, die ich in Ravensbrück kennengelernt habe, beauftragt, vor Ort zu recherchieren. Sie hat das Grab meines Vaters ausfindig gemacht und mit dem lokalen Pfarrer gesprochen. Sie hat ihm von meiner Spurensuche erzählt, und er sah den guten Ruf meines Vaters über den Tod hinaus gefährdet. Durch mich, eine uneheliche deutsche Tochter.

Wie sind Sie zu dem Projekt »Trotzdem da!« gekommen?

Mich hat Jan Dohrmann angeschrieben, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Sandbostel, ob ich bereit wäre, bei dem Forschungsprojekt zu verbotenen Beziehungen zwischen Deutschen und Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeiter*innen mitzumachen. Bisher wurde das Thema der Kinder aus diesen unerwünschten Beziehungen weitgehend vernachlässigt. Jetzt fühle ich mich nicht mehr so allein mit meinen Verletzungen, und anderen in der Gruppe ist es ähnlich ergangen.

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