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  • Avantgarde des 20. Jahrhunderts

Surrealismus im Lenbachhaus München: Alarm! ALARM! ALARM!!!

Das Münchner Lenbachhaus zeigt die politische Dimension der surrealistischen Bewegung – die Rolle der Frau bleibt jedoch außen vor

  • Dorte Lena Eilers
  • Lesedauer: 4 Min.
Das »Grand tableau antifasciste collectif« (1960) legte den Finger in die Wunde des französischen Kolonialismus und wurde prompt beschlagnahmt und für 27 Jahre weggeschlossen.
Das »Grand tableau antifasciste collectif« (1960) legte den Finger in die Wunde des französischen Kolonialismus und wurde prompt beschlagnahmt und für 27 Jahre weggeschlossen.

Es wäre schön, ließe sich der Faschismus einfach zerbeißen. So lässig und elegant, wie es die Frau auf dem Foto demonstriert: offensiv in einem Türrahmen lehnend, ein Kopftuch locker um die blonden Haare geschlungen, die Hände in den Taschen ihres weiten Mantels vergraben und ein Nazi-Emblem zwischen den Zähnen.

Die jüdische Schriftstellerin und Fotografin Claude Cahun, Teil der Gruppe der französischen Surrealisten, die in den 20er und 30er Jahren in Paris die Gesetze der Kunst sowie der herrschenden Ideologie aus den Angeln hoben, war eine entschiedene Aktivistin. Gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Suzanne Malherbe (Künstlername: Marcel Moore) verfasste sie auf der von den Nazis besetzten Kanalinsel Jersey Flugblätter mit Desertationsaufrufen (»Alarm! ALARM! ALARM!!!«), die sie in Klopapierrollen, Telefonbüchern und auf Kirchenbänken deponierte. 1944 wurde sie wegen »truppenzersetzender Aktivitäten« durch die Gestapo zum Tode verurteilt, im Mai 1945 kam sie wieder frei.

Das Foto, das prominent zu Beginn der Ausstellung »Aber hier leben? Nein danke! – Surrealismus + Antifaschismus« im Kunstbau des Münchner Lenbachhauses hängt, stammt aus jenem Mai und zeigt in ruhiger Eleganz zwei wichtige Aspekte der Schau: Der Surrealismus, der mit seinen fließenden Formen, schrillen Farben und schrägen Gestalten gerne als popkultureller Fundus für diverse Plattencover (Beatles) und Sci-Fi-Filme (»Star Wars«) herhalten musste, war eine dezidiert politische, sprich antifaschistische Bewegung. Und: Diese wurde an zentralen Stellen immer wieder auch von Frauen angeführt.

100 Jahre ist es her, dass der französische Surrealist André Breton am 15. Oktober 1924 sein »Manifeste du surréalisme« durch die Druckerpresse schicken ließ. Ein Akt der Vervielfältigung, der die in diesem Gründungstext essayistisch mäandernden Gedanken einer der aufregendsten Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts in die Welt brachte. Im Original ist das Dokument derzeit in der Großausstellung »Surréalisme« im Pariser Centre Pompidou zu sehen. Anders als dort jedoch konzentriert sich die Münchner Ausstellung nicht auf die ästhetische Revolution, die die Maler*innen, Schriftsteller*innen und Theaterautor*innen in ihrer Abkehr von Materialismus und Realismus auslösten, indem sie dem Unbewussten, dem Traum, dem Absurden Raum gaben, ohne sich durch Regeln, Prinzipien oder den Verstand einhegen zu lassen.

Die Kurator*innen Stephanie Weber, Adrian Djukić und Karin Althaus arbeiten stattdessen das Politische der Bewegung heraus – ein Ansatz, der unmittelbar am Königsplatz, diesem einst von den Nazis okkupierten Areal, an dem das Lenbachhaus gelegen ist, zu einer spannungsreichen Setzung führt.

Die Folge ist, dass man sich als Besucher, im Gegensatz zur Pariser Schau, durch allerlei Dokumente arbeiten muss. Das surrealistische Schaffen konzentrierte sich eben nicht nur auf – teils großformatige – Malerei, sondern auch auf Texte, Flugblätter, Skizzen, Manifeste, Bücher. Flankiert von ausgewählten Werken des Surrealismus, etwa Max Ernsts berühmtem »Hausengel« (1937), Victor Brauners »Totem der verwundeten Subjektivität II (1948)« oder René Magrittes »Der Schatten der Welt« (1928), rekonstruiert sich für den Betrachter auf diese Weise ein aufregendes Wechselspiel zwischen Ästhetik, Leben und Politik, das weit über die Grenzen Europas hinausstrahlte.

Neben den Sektionen »Aber hier leben? Nein danke: Leerstelle Deutschland«, »Gespenster in Prag« oder »Der spanische Bürgerkrieg«, die den Kampf gegen den europäischen Faschismus nachzeichnen und dabei auch die Brüche im Kreis der surrealistischen Antifaschisten nach dem Stalin-Terror thematisieren, weiten die Abteilungen »Überfahrt Marseille → Martinique«, »Tropiques« sowie »Ted Joans – Jazz is my religion« den Blick auf die internationale Dimension der Bewegung aus, die sich, mitunter in Kollaboration von heimischen und exilierten Künstler*innen, auch mit antikolonialen Themen verband.

Die Bedrohung, derer sich die Künstlerinnen und Künstler permanent ausgesetzt sahen, wird dabei in einem Werk bewegend plastisch: Im Zentrum der Ausstellung begegnet einem das 20 Quadratmeter große »Grand tableau antifasciste collectif«, das »Große kollektive antifaschistische Gemälde«, eine Gemeinschaftsarbeit der Künstler Antonio Recalcati, Enrico Baj, Erró, Gianni Giancarlo Dova, Jean-Jacques Lebel und Roberto Crippa aus dem Jahr 1960, die die Folterung und Gruppenvergewaltigung der jungen algerischen Freiheitskämpferin Djamila Boupacha durch französische Soldaten thematisiert. 1961 in Mailand zum ersten Mal präsentiert, wurde das Bild sogleich von der Polizei beschlagnahmt und für 27 Jahre, verächtlich zusammengefaltet, weggeschlossen. Bis heute sind die Faltspuren dieser Verachtung sichtbar.

Wenngleich den sogenannten »Papier-Geschossen« von Claude Cahun und Marcel Moore eine eigene Abteilung gewidmet ist, verpasst es die Münchner Ausstellung, die Position der Frauen im Surrealismus ernsthaft zu analysieren. »Und ist es schließlich nicht das Wesentliche«, heißt es in Bretons Manifest, »dass wir Herr über uns selber und auch über die Frauen, die Liebe sind?« Was wäre zu so einem Satz alles zu sagen! Die Widersprüchlichkeit einer Bewegung, die allumfassende Freiheit proklamierte, dabei aber die Hälfte der Bevölkerung zum Besitz des Mannes erklärte, hätte Thema sein müssen, prägen patriarchale Strukturen doch auch heute noch so manch einen sich »gleichberechtigt« nennenden Aktivismus.

»Aber hier leben? Nein danke! – Surrealismus + Antifaschismus«, bis zum 2. März 2025, Lenbachhaus, München.

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