- Politik
- Nahost-Konflikt
Libanon sucht nach neuer Stabilität
Parallel zum Krieg treffen sich rivalisierende Politiker, um über die Besetzung des Präsidentenamtes zu beraten
Eine Beruhigung an der libanesischen Front zeichnet sich nicht ab. Israels Angriffe vor allem im Süden des Nachbarlandes, etwa im Raum Bint Dschubail und Nabatija, gingen in der Nacht und am Montagmorgen weiter. Schwere Kämpfe hätten sich auch in Mardschajun nördlich von Udaissa abgespielt, berichtete die staatliche libanesische Nachrichtenagentur NNA. Bei israelischen Angriffen auf den Süden des Libanon starben nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums mindestens 21 Menschen. Ende vergangener Woche waren zudem drei Journalisten des getötet worden. Insgesamt starben seit Kriegsbeginn acht Journalisten im Libanon.
Und doch gibt es ein Zeichen der Hoffnung: In einem Besprechungszimmer in der Hauptstadt Beirut ereignete sich inmitten der Bombardements des Süd-Libanon und der Flucht von Hunderttausenden vor wenigen Tagen nahezu ein Wunder: Parlamentssprecher Nabih Berri, der amtierende Regierungschef Nadschib Mikati und Walid Dschumblat trafen sich, um über die politische Zukunft zu sprechen. Es ist ein Zeichen der Hoffnung, weil die drei für einige der wichtigsten rivalisierenden Gruppen im Libanon stehen: Berri steht der Hisbollah nahe, Dschumblat ist einer der politischen Führer der drusischen Bevölkerung. Mikati repräsentiert den syrischen Einfluss im Libanon. Nach mehr als einem Dutzend gescheiterten Wahlgängen im Parlament will man sich nun, im Angesicht des Krieges, auf einen Präsidenten einigen.
Der Libanon hat ein Bündel an Problemen
Der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah ist zwar momentan das größte akute Problem des Landes. Aber es ist bei weitem nicht das einzige. Der Staat ist pleite, kann nicht mal mehr die Rechnungen für Gas- und Treibstofflieferungen bezahlen. In den Banken gibt es nicht genug Bargeld, um die Guthaben auszuzahlen. Arbeitslosigkeit und Armut grassieren. Es kommt alles zusammen und noch viel mehr: Die israelischen Angriffe auf die Hisbollah, auf ihre Unterstützer im Iran haben die Befürchtung aufkommen lassen, dass ihre Gegner im Land selbst als Nächstes versuchen könnten, zur Waffe gegen die Hisbollah zu greifen, um den von Israel angefangenen Job der Zerschlagung der Hisbollah zu Ende zu bringen. Auch dass andere schiitische Gruppen das Vakuum füllen könnten, das durch die geschwächte Hisbollah entsteht, steht im Raum. Seit Jahrzehnten war die Gefahr eines Bürgerkriegs nicht mehr so hoch wie jetzt.
Von der einst mächtigen Hisbollah ist nach Wochen des Kriegs nicht mehr viel übrig: Nahezu ihre gesamte Führung ist tot, ihre Infrastruktur weitgehend zerstört. Immer noch da sind ihre Unterstützer, von denen bis zu 100 000 bewaffnet sind, mehr als die libanesische Armee an Soldaten hat.
Noch ist die Hisbollah zu Raketenangriffen auf Israel in der Lage: In der vergangenen Woche starben zwei Menschen bei einem Raketenanschlag in der nordisraelischen Stadt Madschd al-Kurum.
US-Sondergesandter will Waffenruhe vermitteln
Am Montag traf Amos Hochstein, Sondergesandter von US-Präsident Joe Biden, zum zweiten Mal innerhalb einer Woche in Beirut ein. Auch das ist ein positives Zeichen. Er werde nur zurückkehren, wenn es echte Aussichten auf einen Waffenstillstand gebe, hatte das Weiße Haus zuvor bekanntgegeben, während man sich ansonsten bedeckt hält. Die Forderungen des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu sind aber ohnehin bekannt: Die Hisbollah müsse ihre Kräfte 30 Kilometer weit von der Grenze abziehen, sich entwaffnen und die israelische Luftwaffe freien Handlungsspielraum über dem Libanon erhalten.
Gleichzeitig drängen westliche und arabische Regierungen darauf, dass im Libanon endlich der politische Stillstand beendet wird, ebenso wie die libanesische Öffentlichkeit, in der viele auch gleichzeitig darauf hoffen, dass sie damit den pro-syrischen und vor allem unter Korruptionsverdacht stehenden Regierungschef Mikati loswerden. Er ist nur übergangsweise im Amt, seine Befugnisse sind stark eingeschränkt. Denn nur der Präsident, den es derzeit nicht gibt, kann die Regierungsbildung beauftragen.
Nachdem Mikati 2021 zum dritten Mal Regierungschef wurde, versuchte er mehrfach Razzien und eine Anklage gegen Zentralbankchef Riad Salameh zu verhindern, letztlich erfolglos. Immer wieder war in Beirut zu hören, dass Salameh im Fall einer Anklage über genügend kompromittierendes Material verfüge, um notfalls die ganze Elite des Landes mit sich zu reißen. Salameh wird vorgeworfen, zusammen mit seinem Bruder rund 330 Millionen US-Dollar an öffentlichen Geldern veruntreut zu haben. Auch in einigen europäischen Staaten, darunter in Deutschland, wird deshalb gegen ihn ermittelt.
Mittlerweile sind nach Angaben der Vereinten Nationen rund eine Million Menschen auf der Flucht, während der Winter beginnt. Bei einer Geberkonferenz in der vergangenen Woche wurden 740 Millionen Euro für humanitäre Hilfen zugesagt. 185 Millionen Euro sollen für die Stärkung der libanesischen Armee ausgegeben werden. Ihr Kommandeur Joseph Aoun, ein Christ, gilt auch als der Favorit der westlichen Staaten für das Präsidentenamt. Die Rechnung dahinter: Die Streitkräfte sind in allen Bevölkerungsgruppen respektiert; Aoun arbeitete seit 2007 auch kontinuierlich an einem neutralen Anstrich der Streitkräfte. Aber es war eben auch diese Neutralität, die dazu geführt hat, dass sich die Hisbollah nach dem bis dato letzten großen Krieg im Sommer 2006 weiter zum Staat-im-Staat entwickeln konnte, und die Uno-Resolution 1701, die damals den Krieg beendete, schon bald nichts mehr wert war: Die schiitische Organisation bewaffnete sich weiter und baute ihre Kräfte an der israelischen Grenze aus.
Auch die 1978 gestartete Uno-Blauhelmmission Unifil konnte bald nicht mehr tun, als ihre Berichte über Verletzungen der Resolution an den Uno-Sicherheitsrat zu schicken, wo man ihnen meist wenig Aufmerksamkeit schenkte. Mittlerweile gilt die Mission endgültig als gescheitert: Mehrfach wurden ihre Posten von der israelischen Armee beschossen, Uno-Soldaten verletzt.
Ob als Präsident oder als Armeechef: Die internationale Gemeinschaft erwartet, dass Aoun nun die Neutralität der Streitkräfte aufgibt und die Kontrolle auch über jene Gebiete übernimmt, in denen die Hisbollah bislang die militärische Oberhand hat.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!