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Eine Reise für eine Abtreibung
Schwangerschaftsabbrüche sind in den USA ein emotionales Thema, das auch im Wahlkampf eine zentrale Rolle spielt
»Wir sind mehr als Gebärmaschinen«, erklärte Michelle Obama am Wochenende, als sie sich als ehemalige First Lady in den Wahlkampf einschaltete und eine viel beachtete Rede zur Unterstützung von Kamala Harris hielt. Obama schilderte, wie eine fehlende medizinische Versorgung für Schwangere gefährlich werden könnte. Sie sprach von Situationen, in denen Frauen gezwungen würden, über Bundesstaatsgrenzen hinwegzureisen, nur um Zugang zu einem notwendigen Medikament oder einem Termin in einer Klinik zu erhalten.
Der Streit um Schwangerschaftsabbrüche ist eins der umstrittensten Themen im Wahlkampf der USA. Angefacht wurde er vor zwei Jahren, als der Supreme Court als oberstes Verfassungsgericht das Recht auf Abtreibung aussetzte. Das sogenannte Dobbs-Urteil von 2022 kippte den Richterspruch von »Roe versus Wade« aus dem Jahr 1973, der verhinderte, dass einzelne Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche völlig verbieten. Mit dem neuen Urteil machte das Gericht also Abtreibungen wieder zur Sache der Bundesstaaten. Vor allem im Süden der USA, die von den Republikanern regiert werden, wurden Schwangerschaftsabbrüche verboten und oftmals unter Strafe gestellt. Der größte Bundesstaat mit einem fast absoluten Abtreibungsverbot ist Texas. Selbst der Abbruch einer Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder Inzest ist in dem Bundesstaat, in dem 29 Millionen Menschen leben, illegal.
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Die alte Gesetzeslage habe ein Gefühl der Sicherheit gegeben, erklärt die Anwältin Hailey Zock vom »Southwest Women’s Law Center«, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die juristischen Belange von Frauen einsetzt. Das sei jetzt nicht mehr da. »Es fühlt sich an, als gäbe es jeden Tag etwas anderes zu bekämpfen«, beschreibt sie die gravierenden Folgen der Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichts.
Seitdem einzelne Staaten Abtreibungen rigoros verbieten, wurden 26 000 Kinder aus Vergewaltigungen geboren, schätzt eine kürzlich erschienene Untersuchung des Medizin-Journals »Jama«. Weitere Studien ergaben eine höhere Sterblichkeit für Kinder, und auch das Risiko für Frauen in Texas, während der Schwangerschaft oder der Geburt zu sterben, soll um 56 Prozent gestiegen sein.
Die neue Gesetzeslage hat dazu geführt, dass die USA heute in ein ungleichmäßiges Schachbrett aufgeteilt sind, in einigen Bundesstaaten sind Abtreibungen noch erlaubt in anderen nicht. Wenn eine Frau sich dazu entschieden hat abzutreiben, kann sie einen solchen Eingriff noch bekommen – sie muss allerdings die Mittel und Möglichkeiten haben, eine Reise dorthin anzutreten, wo Schwangerschaftsabbrüche erlaubt sind.
Die Grenze zwischen Texas und New Mexico ist ein solcher Ort, an dem sich die Gesetzeslage innerhalb weniger Meter schlagartig ändert. Während Texas nach Kalifornien die zweitstärkste Wirtschaft in den USA hat und zu den am schnellsten wachsenden Bundesstaaten des Landes zählt, leben in New Mexico weniger Menschen als in Berlin, rund 16 Prozent davon unter der offiziellen Armutsgrenze.
Die texanische Großstadt El Paso liegt unmittelbar an der Grenze zu New Mexico. Dass es im Nachbarstaat liberaler zugeht, erkennt man schon an den großen Werbetafeln, die an den Autobahnen aufgestellt sind. »Dispensary« steht darauf, was so viel wie »Ausgabe« bedeutet. Geschäfte verkaufen in New Mexico Cannabis an Personen ab 21 Jahren; in Texas hingegen kann auch die Abgabe von kleineren Mengen noch zu einer Haftstrafe führen. Auch das Abtreibungsrecht ist in New Mexico nicht verschärft worden, weshalb sich westlich von El Paso in Grenznähe zu Texas, mehrere Abtreibungskliniken niedergelassen haben, was nicht unumstritten ist.
New Mexico ist zwar ein demokratisch regierter Staat, doch das bedeutet bei Weitem nicht, dass alle im Staat erfreut über die Möglichkeit von Abtreibungen sind. Auch hier ist die Bevölkerung wie überall in den USA politisch gespalten. Während die städtischen Gegenden im Süden und Norden des Staates vorwiegend die Demokraten und deren liberale Gesetzgebung bevorzugen, wird auf dem Land mehrheitlich republikanisch gewählt. Evangelikale und katholische Kirchen haben hier einen großen Einfluss, und auch aus dem Nachbarstaat Texas wird Druck ausgeübt, Abtreibungen nicht noch zu forcieren.
Es fühle sich wie »eine Kriegszone« an, sagt die Anwältin Hailey Zock vom »Southwest Women’s Law Center«. Denn obwohl sich die Gesetzeslage in New Mexico seit dem Urteilsspruch von 2022 nicht geändert hat, hat sich auch hier vieles verändert. Viele Schwangere reisen – wie es Obama in ihrer Rede erwähnt hat – nach New Mexico wegen einer Abtreibung. Der kleinere Bundesstaat trägt nun maßgeblich die Last des großen Nachbarn Texas. Das Forschungsinstitut Guttmacher Institute schätzt, dass allein im Jahr 2023 mehr als 14 000 Personen für eine Abtreibung aus Texas nach New Mexico gereist sind.
»Wir wissen von Abtreibungsgegnern aus Texas, die versuchen, einzelne Landkreise in New Mexico zu beeinflussen«, erzählt Zock. Mehrere kleine Gemeinden haben entlang der Grenze zu Texas lokale Gesetze verabschiedet, um den Bau von Abtreibungskliniken zu verhindern. Dagegen ließ die Gouverneurin von New Mexico, Michelle Grisham, schon vor zwei Jahren zehn Millionen US-Dollar beiseitelegen, um Kliniken zu errichten und bestehende Einrichtungen zu unterstützen.
In Las Cruces, eine knappe Autostunde von El Paso entfernt, befindet sich auch die »Las Cruces Women’s Health Organization«. Die Klinik, die sich auf Schwangerschaftsabbrüche spezialisiert hat, ist der Nachfolgerin der »Jackson Women’s Health Organization« aus Jackson, Mississippi. Die Einrichtung klagte im Gerichtsfall »Dobbs« gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes des Bundesstaates und verlor. Mit dem Urteil zog die Klinik 1600 Kilometer westlich nach New Mexico, um dort weiterzuarbeiten.
Gegner von Abtreibungen bieten dagegen eine Betreuung von Schwangeren in einem »Crisis Pregnancy Center« an. Die Einrichtung wirbt mit Plakaten, auf denen zum Beispiel steht: »Schwanger? Wir können helfen«. Sie bietet Schwangerschaftstests und Ultraschalluntersuchungen an und wendet sich vornehmlich an Personen, die sich nicht bereit für ein Kind fühlen. Die Mitarbeiterinnen versuchen dann, die Schwangeren davon zu überzeugen, keine Abtreibung vorzunehmen.
»›Crisis Pregnancy Center‹ sind gefährlich. Sie arbeiten nicht mit richtiger medizinischer Ausrüstung.«
Hailey Zock Southwest Women’s Law Center
Jamie Dickerson leitet eine Beratungsstelle von »Care Net« in Las Cruses, einer Organisation, zu der auch die »Crisis Pregnancy Center« gehören. »Wir stellen einen Ort zur Verfügung, an dem Frauen ihre Optionen überdenken können, ohne sich für diese verurteilt zu fühlen«, sagt Dickerson. »Wir glauben, dass Gott uns dazu berufen hat.«
»Crisis Pregnancy Center« stehen in den USA in der Kritik, weil sie sich oft im Gewand von medizinischen Einrichtungen präsentieren, obwohl sie keine sind. Im Gegensatz zu Arztpraxen und Kliniken unterstehen sie nicht der Schweigepflicht oder dem gesetzlichen Mandat, keine persönlichen Daten an Dritte weiterzugeben. Dickerson meint, diese Befürchtungen seien grundlos. »Jeder ›Care Net‹-Ableger arbeitet für sich und teilt keine Daten mit anderen«, sagt sie. Für Dickerson sei ihre Arbeit eine Berufung. »Wir möchten uns mit den Ursachen beschäftigen, die Paare dazu bewegen, eine Abtreibung in Erwägung zu ziehen.«
Hailey Zock hält die »Crisis Pregnancy Center« für gefährlich. »Sie arbeiten nicht mit richtiger medizinischer Ausrüstung«, sagt sie. So seien die Schwangerschaftstests der Zentren nicht auf einem klinischen Standard, »sondern einfach die billigen, die es in jeder Drogerie zu kaufen gibt«. Auch das Personal, das die Ultraschallgeräte bedient, hat keine medizinische Ausbildung. »Sie können einem nur sagen, ob man schwanger ist oder nicht«, sagt Zock. Bei sogenannten ektopischen Schwangerschaften, die hochgefährlich für Gebärende sein können, könnte das Personal keine medizinischen Ratschläge oder Empfehlungen geben. In jedem Fall würden Arbeiter eines »Crisis Pregnancy Center« nie zu einer Abtreibung raten, sagt Hailey Zock, selbst wenn diese aus medizinischer Sicht ratsam wäre.
Abtreibungsrechte bleiben in den USA ein Thema mit enormer politischer Brisanz. Die Folgen der Verbotswelle motivieren in diesem Wahlkampf vor allem die demokratische Wählerschaft, die sich den Schutz des Rechts auf Abtreibung als nationales Gesetz zurückwünschen. Viele republikanische Abtreibungsgegner erhoffen sich dagegen ein weitreichendes Verbot, das Abtreibungen auch in Bundesstaaten wie New Mexico ausschließen würde. Wie die Gesetzeslage im nächsten Jahr in Texas und New Mexico aussehen wird, hängt also maßgeblich mit den Wahlen am 5. November zusammen. Bis dahin bleibt die Lage bewegt. »Jeder Tag ist Chaos«, sagt Hailey Zock.
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