Kein Ruhekissen in der »Täterstadt« Chemnitz

NSU-Dokumentationszentrum nimmt Gestalt an. Seine Rolle im bundesweiten Verbund bleibt aber offen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.
An die Verbrechen des NSU und ihre Opfer wurde auf unterschiedliche Weise erinnert – 2020 in einem Zwickauer Stadion mit diesen Bänken.
An die Verbrechen des NSU und ihre Opfer wurde auf unterschiedliche Weise erinnert – 2020 in einem Zwickauer Stadion mit diesen Bänken.

Auf die bisherige Nutzung des Ladenlokals mitten in der Chemnitzer Innenstadt deutet nur ein einziges Wort hin. »Matratzen« steht an einer Wand. Wo einst Betten samt Zubehör verkauft wurden, soll nun eine Einrichtung entstehen, die beweist, dass sich die Stadt bei einem für sie sehr unrühmlichen Kapitel nicht auf ein Ruhekissen legen will. Im Mai 2025, wenn Chemnitz europäische Kulturhauptstadt sein wird, eröffnet hier das bundesweit erste Dokumentationszentrum zum sogenannten NSU-Komplex.

Wenn es um den NSU (»Nationalsozialistischer Untergrund«) geht, gilt Chemnitz neben Zwickau als eine der »Täterstädte«. In beiden Orten konnte das Kerntrio der rechtsextremen Terrorzelle, die in den Jahren von 2000 bis 2007 neun Geschäftsleute mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordete sowie Bombenanschläge und Banküberfälle verübte, jahrelang unbehelligt untertauchen, bevor es am 4. November 2011 zur »Selbstenttarnung« kam. Damals wurden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot in einem Wohnmobil in Eisenach aufgefunden; Beate Zschäpe setzte den letzten Unterschlupf in der Zwickauer Frühlingsstraße in Brand.

In Chemnitz und Zwickau bemühen sich zivilgesellschaftliche Initiativen seit Jahren, an die Mordtaten und das sie begünstigende Umfeld in der Region zu erinnern. Der Verein ASA-FF etwa veranstaltet »Critical Walks« und brachte eine Wanderausstellung auf den Weg, die nach Stationen in vielen Städten im In- und Ausland zuletzt in Dresden zu sehen war. Allerdings gab es nie einen festen Ort für Aufarbeitung und Erinnerung – sehr zum Leidwesen von Hinterbliebenen der Opfer. Erst 2019 bekannte sich die damals neue sächsische Koalition aus CDU, Grünen und SPD zur Errichtung eines Dokumentationszentrums, 2021 folgte das Regierungsbündnis im Bund. In dessen Koalitionsvertrag heißt es: »Wir unterstützen die Errichtung eines Erinnerungsortes sowie eines Dokumentationszentrums für die Opfer des NSU.«

Ein solcher Ort entsteht jetzt in Chemnitz. Noch ist das ehemalige Ladenlokal ein leerer Raum, in dem nur Klebezettel andeuten, wo künftig Besucher empfangen werden, wo Informationstafeln und Kunstobjekte gezeigt werden und wo die Gäste in einem abgeschlossenen Bereich Gelegenheit erhalten, das Gesehene zu verarbeiten. Auch mit dem Abstand von 13 Jahren wird das Entsetzen über die Verbrechen wie über das jahrelange Versagen bei ihrer Aufklärung nicht geringer.

»Unser Zentrum soll nicht nur ein teures Pop-up werden, das nach 2025 wieder geschlossen wird.«

Khaldun Al Saadi Projektleiter

»Viele Besucher der Wanderausstellung wünschen sich einen solchen Raum zum Innehalten«, sagt Architektin Esther Gerstenberg, die für die Gestaltung des Chemnitzer Zentrums zuständig ist. Dass dieses nicht, wie anfangs geplant, in einem Geschäftshaus aus den 90er Jahren untergebracht wird, sondern in dem Ladengeschäft, bezeichnet sie als Glücksfall: »Es ist der perfekte Ort, um es mit der Stadtgesellschaft zu verweben«, sagt sie. Vor der Fensterfront möchte sie eine Bank installieren, öffentliches WLAN anbieten und so auch zufällige Besucher für die Ausstellung gewinnen.

In Sachsen hatte man sich lange Zeit Hoffnung gemacht, das bundesweite Dokumentationszentrum beherbergen zu können. Das hat sich zerschlagen. Im Rahmen einer von der Bundeszentrale für politische Bildung beauftragten, im Frühjahr 2024 vorgestellten Machbarkeitsstudie äußerten Angehörige der Opfer und andere Betroffene schwerwiegende Einwände. Sie verwiesen auf starke rechtsextreme Strukturen in Sachsen und eine »von ihnen empfundene Bedrohungslage für migrantisch gelesene Menschen«. Die Bundespolitik, die den organisatorischen Rahmen für das Zentrum setzen muss, nahm die Bedenken auf. »Wir müssen uns doch fragen, ob wir die Familien der Opfer hierherschicken wollen«, sagt etwa die SPD-Politikerin Aydan Özoguz, Vizepräsidentin des Bundestages. Zunächst habe sie sich sogar gefragt: »Warum eigentlich Chemnitz?!«

Bei einem Besuch in der Stadt am 13. Jahrestag der Selbstenttarnung sagte sie indes: »Chemnitz ist wichtig.« Der Bund plane jetzt einen dezentralen Verbund mit zwei bis drei Standorten, die »aufeinander aufbauen und sich im Idealfall gegenseitig ergänzen«.

In der entsprechenden Gesetzesvorlage sei das allerdings noch nicht eindeutig so formuliert, erwidert Khaldun Al Saadi, Projektleiter des Chemnitzer Dokumentationszentrums. Die Vorlage ist im Bundeskabinett abgestimmt, könnte im November in den Bundestag eingebracht und noch vor Ende der Legislaturperiode im Sommer 2025 beschlossen werden. Mit Blick auf die dezentrale Struktur »wünschen wir uns noch mehr Klarheit«, sagt Al Saadi. Das Chemnitzer Dokumentationszentrum dürfe »nicht nur ein teures Pop-up werden, das nach 2025 wieder geschlossen wird«.

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