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Freiheit mit Kultur und Coca Cola
Umfangreiches Festprogramm zum 35. Jahrestag des Mauerfalls
Der ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße ist ein Symbol für den Mauerfall im Jahr 1989. Dort strömten Ostdeutsche in der Nacht vom 9. auf den 10. November nach Westberlin. Die Bilder gingen um die Welt. Vor Ort erinnert heute eine kleine Freiluftausstellung an der Auffahrt zur Bösebrücke an das historische Ereignis. Oben auf der Brücke gibt es an einem der beiden Eingänge zur S-Bahnstation Bornholmer Straße eine Sitzgelegenheit, auf der durch Lautsprecher das Wort zu hören ist, das in der Nacht zum 10. November 1989 allgegenwärtig war: »Wahnsinn!«
Ein Areal der Grenztruppen linker Hand der Bösebrücke blieb lange eine Brache, auf der erst Gebrauchtwagen verhökert wurden, dann mal ein Wanderzirkus gastierte und sonst nicht viel passierte. Inzwischen steht da aber schon viele Jahre der Neubau einer Supermarktfiliale, zu dem später noch ein Wohnhauskomplex mit teuren Quartieren kam. Hier an der Bösebrücke treffen sich zum 35-jährigen Jubiläum des Mauerfalls am 9. November um 19 Uhr mit Stefanie Remlinger und Cordelia Koch die Bezirksbürgermeisterinnen von Mitte und Pankow, die beide den Grünen zuzurechnen sind. Das alte Berlin-Mitte liegt zwar genauso wie Pankow auf Ostberliner Territorium. Doch durch die Bezirksgebietsreform vom 2001, die aus 23 Berliner Bezirken zwölf machte, gehören zu Mitte heutzutage auch die westlichen Ortsteile Tiergarten und Wedding – und Wedding grenzt an der Bösebrücke an Pankow.
»Freiheit ist ein wertvolles Gut, das man bewahren muss, aber auch mal feiern darf.«
Joe Chialo (CDU) Kultursenator
»Freiheit ist ein wertvolles Gut«, sagt Kultursenator Joe Chialo (CDU). Man müsse die Freiheit bewahren, dürfe sie aber auch feiern, meint er. Chialo ist am Dienstag dabei, als die landeseigene Gesellschaft Kulturprojekte Berlin an ihrem Sitz im Podewil in der Klosterstraße das Programm zu »35 Jahre Mauerfall« vorstellt. Nicht von ungefähr freut sich der früher in der Musikbranche tätige Kultursenator besonders auf den Auftritt von insgesamt rund 700 Musikern, die am Abend des 9. November entlang des ehemaligen Grenzstreifens ein Konzert geben werden. Sie spielen dabei unter anderem auch »Heroes« von dem 2016 verstorbenen Briten David Bowie, der von 1976 bis 1978 in Westberlin lebte, »S.O.S« von der ostdeutschen Band Silly und »Freiheit« von dem Westdeutschen Marius Müller-Westernhagen. Joe Chialo nennt »Februar«, die 1989 veröffentlichte Schallplatte von Silly, auf die auch der Titel »S.O.S« gepresst wurde, eine Inspiration.
Mit Losungen bemalte Bettlaken und Pappkartons prägten die Demonstrationen im Wendeherbst 1989. Die Kulturprojekte reproduzierten über 100 Motive, darunter die Forderung »Freie Presse für freie Menschen« oder einfach »Solidarność«, was nichts anderes heißt als Solidarität und an die polnische Gewerkschaft erinnert, die zum Vorlauf des Mauerfalls gehört und Anstöße für tiefgreifende Umwälzungen gab. Dazu stellt die Kulturprojekte-Gesellschaft weitere Schilder mit aktuellen Wünschen und Forderungen – gemalt von Menschen, die sich zur Beteiligung anregen ließen und vielfach ihre Sehnsucht nach Frieden ausdrückten.
Gezeigt werden die nachempfundenen und die neu gestalteten Stücke auf einem vier Kilometer langen Abschnitt des ehemaligen Grenzstreifens zwischen Invalidenstraße und Axel-Springer-Straße. Der Aufbau hat bereits begonnen. Hier könnten Nachgeborene und Zugezogene dann sehen, wo die Mauer verlief, denn viele wüssten das gar nicht so genau, erläutert Simone Leimbach, die bei Kulturprojekte Berlin die Abteilung Ausstellungen und Veranstaltungen leitet. Fast alle gezeigten Motive seien auch in dem Buch »Haltet die Freiheit hoch!« versammelt. Dieses Buch wurde mit Unterstützung der Lotto-Stiftung gedruckt und wird kostenlos verteilt.
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In dem Band enthalten ist auch ein Interview mit den Fußballspielern Axel Kruse und Christian Beeck, die nach dem Mauerfall als Profisportler exorbitant mehr Geld verdienen konnten, als es ihnen sonst möglich gewesen wäre. Weiterhin wären einige Liebesbeziehungen ohne den 9. November 1989 nicht zustande gekommen. Dafür steht die Aussage: »Ohne den Mauerfall hätte ich meine Frau nicht kennengelernt.« Viele andere jedoch verloren gemeinsam mit den Einschränkungen der Reisefreiheit auch ihren Arbeitsplatz. Manche erholten sich nie wieder von diesem Schock. Das gehört zur Geschichte dazu. Bezüge zur Gegenwart versucht Kulturprojekte unterdessen auch herzustellen durch Videobotschaften von Oppositionellen etwa aus China, Nicaragua und Venezuela, die schwärmen, wie das Wissen um die Wende von 1989 sie beflügele.
Folgerichtig ist, dass zu den Sponsoren der Festivitäten am 8. und 9. November der US-Konzern Coca Cola gehört, der vor 35 Jahren die Chance bekam, seine Getränke auch jenseits der Mauer anzubieten. Den Abschluss der Festlichkeiten bildet am 10. November ein Konzert der russischen Gruppe Pussy Riot in Lichtenberg.
Die Mauer verlief durch Berlin und zusätzlich zwischen dem Westteil der Stadt und Brandenburg. Das Land Brandenburg begeht das Jubiläum jedoch am 9. November weit weg in Frankfurt (Oder). Grußworte sprechen soll dort neben Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) und Oberbürgermeister René Wilke (parteilos) auch Basil Kerski, Direktor des Solidarność-Zentrums im polnischen Gdańsk. »Ohne Solidarność kein Mauerfall«, meint Axel Klausmeier von der Stiftung Berliner Mauer.
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