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Am Wahltag in den Knast
Ist Kanada wirklich ganz anders als die USA, fragt sich Raul Zelik
Von Kanada denkt man ja immer, das Land sei anders als die USA: sozialer, liberaler, irgendwie auch ein bisschen gebildeter. Aber wie die meisten guten Nachrichten ist natürlich auch diese nicht wahr: Das öffentliche Gesundheitssystem ist so kaputtgespart, dass Bekannte schon mal 300 Kilometer zum Frauenarzt fahren, kanadische Ölbundesstaaten kommen politisch und kulturell wie Texas daher, und die Großstädte hier bestehen wie die in den USA in erster Linie aus Parkplätzen, Single-Family-Homes und vier- bis sechsspurigen Ausfallstraßen.
Was Kanada mit den USA verbindet und vielleicht auch von ihnen trennt, erfahre ich am Wahltag bei einem Besuch im örtlichen Hochsicherheitsgefängnis. Weil die lokale Universität ein Bildungsprogramm für Häftlinge betreibt, darf ich mit in den Knast und etwas über die US-Drogenpolitik in Lateinamerika erzählen. Was die Größe der Gefängnispopulation angeht, ähnelt Kanada eher Europa – 107 Personen pro 100 000 Menschen sitzen hier in Haft. In den USA, bekanntlich das freieste Land der freien Welt, sind es bemerkenswerte 750. Doch bei der Zusammensetzung der Gefängnisbevölkerung orientiert sich Kanada dann doch wieder an den USA: Von den 50 Häftlingen, die sich an diesem Tag zu den Kursen angemeldet haben, sind drei Viertel schwarz. Schon allein deswegen bemerkenswert, weil der Anteil von Schwarzen an der Gesamtbevölkerung in Kanada bei nur 4 Prozent liegt.
Wer nordamerikanische Gefängnisse ausschließlich aus dem Fernsehen kennt und jetzt die Luft angehalten hat, kann übrigens aufatmen. In unserem Hochsicherheitstrakt geht es unter den Gefangenen eher herzlich zu. Die jungen Männer, fast alle unter 30, freuen sich zusammenzukommen und sind uns gegenüber fast schon übertrieben höflich. Selbst von der panoptischen Käfigarchitektur, die unablässig hallenden Lärm produziert, lassen sie sich nicht aus der Fassung bringen.
Bei unseren Gesprächen an diesem Tag kommt niemand auf die Wahlen im Nachbarland zu sprechen. Aber über »das System« sagen die Häftlinge ziemlich vernünftige Sachen – über strukturellen Rassismus und fehlende soziale Perspektiven. Endgültig irritiert bin ich, als die Kollegin ein Gespräch zwischen James Baldwin und Audre Lorde austeilt und die Gefangenen über schwarzen Feminismus lesen lässt. Das Leben ist halt doch manchmal besser als Netflix.
Beim Verlassen des Knastes fällt der Name Donald Trumps dann übrigens doch noch. An der Sicherheitsschleuse erinnert sich einer der Uniformierten an die US-Wahl. »Ich bin ja Trump-Fan«, erwidert der andere Schließer. Das darf in Anbetracht seiner Berufswahl nicht überraschen.
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