Alternative zu Aufrüstung und Abschreckung: Gemeinsame Sicherheit

nd-Serie »Die Linke – vorwärts oder vorbei?«: Sechs Anmerkungen zu einem System der Gemeinsamen Sicherheit

  • Dieter Klein
  • Lesedauer: 8 Min.
Verfeindet und doch im Gespräch: der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew und US-Präsident Richard Nixon 1973
Verfeindet und doch im Gespräch: der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew und US-Präsident Richard Nixon 1973

Gemeinsame Sicherheit war im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts nicht allein eine orientierende Losung, sie war eine Doktrin mit ausgearbeiteten Prinzipien und praktischer Wirkung. Sie hat die Potenz einer Jahrhundertstrategie. Aber in der gegenwärtigen Friedensbewegung ist ein zusammenführender Bezug auf diese Doktrin entschieden zu wenig ausgeprägt. Sich auf sie zu besinnen, sie den veränderten Bedingungen anzupassen, verspricht ein konzeptionelles Gegengewicht zur Doktrin der Abschreckung und militärischer Problemlösungen.

Erstens: Gemeinsame Sicherheit wurde als Kontraststrategie zur Abschreckungsdoktrin verstanden – eingeschlossen das Primat von Diplomatie und Verhandlungen gegenüber Konfrontation. Was für eine Aktualität! Dass ein Ende des Krieges in der Ukraine und im Nahen Osten nur durch Abschreckung kommen wird, mit noch tödlicheren Waffen und schließlich durch militärische Siege über Russland und Israels Feinde – das ist dagegen die Mehrheitsauffassung in den westlichen Machteliten.

Selbst wenn die anhaltende russische Aggression diese Annahme zu stützen scheint, so spricht doch ein fundamentaler Befund gegen die Doktrin der Abschreckung und militärischer Lösungen: Die russische Atommacht wird nicht zu besiegen sein. Gegen diese Einsicht an einem westlichen Waffensieg festzuhalten, droht in einen Atomkrieg zu münden. Schon deshalb allein ist ein Übergang von der Politik der Hochrüstung und »Kriegstüchtigkeit« zu einem politischen Primat von Diplomatie und Verhandlungen unausweichlich. Dafür spricht auch, dass drei Viertel aller Kriege der vergangenen Jahrzehnte mit Friedensabkommen endeten, die aus Verhandlungen hervorgingen. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden fast 20 Kriege zwischen zwei oder mehr Staaten durch Verhandlungen beendet. So Jan van Aken, der damit ein Grundprinzip Gemeinsamer Sicherheit bekräftigt: Verhandlungen first! Der Beschluss des Hallenser Parteitags der Linken hat dies als gemeinsamen Bezugspunkt unterschiedlicher Meinungen festgehalten.

Zweitens: Dass das Ende der NS-Diktatur mit Hilfe von Waffenlieferungen der USA an die Sowjetunion und durch den Einsatz von Truppen der Alliierten gegen Deutschland erreicht wurde – spricht das nicht doch dafür, auf militärische Macht zu setzen? Auch in der Linken wird diese Frage gestellt, beispielsweise von Paul Schäfer und Gerry Woop. Doch da sind gravierende Unterschiede zum Krieg gegen Hitlers Armeen festzuhalten.

Der Autor

Prof. Dieter Klein, Jahrgang 1931, ist Ökonom sowie Politik­wissen­schaftler und hatte einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität inne. Maßgeblich wirkte er am Forschungsprojekt »Moderner Sozialismus« mit. Dieter Klein ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne, gehört unter anderem dem Willy-Brandt-Kreis an und arbeitet für die Rosa-Luxem­burg-Stiftung. Kürzlich erschien sein Buch »Gemein­same Sicherheit – trotz alledem!« (VSA-Verlag, 232 S., 16,80 €).

Zum einen: Das Nazi-Regime bedrohte die gesamte menschliche Zivilisation selbst. Es war angetreten für den Völkermord an den Juden in aller Welt. Russische Kriegsverbrechen sind zu verurteilen, jedoch damit nicht vergleichbar. Zum anderen ist eine Verhandlungs- und Friedensfähigkeit der russischen Führung im Unterschied zum Nazi-Regime nicht von vornherein auszuschließen. Die Friedensbewegung sollte an einem weiteren Grundprinzip der von Egon Bahr, Willy Brandt, Olof Palme und anderen vertretenen Doktrin Gemeinsamer Sicherheit festhalten: dass die Gegner von heute die Partner von morgen sein werden.

Putin oder seinesgleichen als künftige Partner? Seine brutale Kriegsführung spricht dagegen. Aber in seiner ersten Amtsperiode zeigte er sich offen für ein kollektives europäisches Sicherheitssystem unter der Voraussetzung der Respektierung russischer Sicherheitsinteressen. Bevor sich die Nato wortbrüchig gen Osten ausweitete und noch im März 2022 in Istanbul, nach Beginn des Ukraine-Krieges, war die russische Führung verhandlungsbereit. Die russische Wirtschaft ist dringlich modernisierungsbedürftig und bedarf dafür auch internationaler Kooperation. Wichtige Teile der russischen Machteliten pflegen einen westlichen Lebensstil und sind an einem Ende westlicher Sanktionen gegen Russland persönlich interessiert. Chinas Interessen an internationaler Kooperation könnten den Druck auf Russland für Verhandlungen wirksam erhöhen. Andere Brics-Staaten wie Brasilien und Südafrika dringen ebenfalls auf Verhandlungen.

Allerdings, eine schier endlose Kette militärischer Interventionen und von Geheimdienstaktionen der USA zum Sturz ausländischer Regierungen vor allem im Globalen Süden und jüngst beispielsweise der Beschluss über die Stationierung von amerikanischen Langstreckenraketen auf deutschem Boden verweisen darauf, dass auch die westliche Friedens- und Partnerschaftsfähigkeit erst noch durch gravierend veränderte Kräfteverhältnisse errungen werden muss. Die Forderung nach einer Politik der Gemeinsamen Sicherheit ist also mindestens gleichermaßen an alle Beteiligte zu adressieren.

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Die Linkspartei steckt tief in der Krise, braucht neues Führungspersonal und dringend einen neuen Aufbruch. Aber wie und wohin? »nd« startet eine Debattenserie über Probleme und Perspektiven: »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« Alle Texte der Serie finden Sie hier.

Drittens: Dass Solidarität mit dem angegriffenen ukrainischen Volk ein humanistisches Gebot ist und schon allein aus diesem Grund Waffenlieferungen an die Ukraine gerechtfertigt sind – trifft das nicht zu? Es ist kein Verrat an linker Friedenspolitik, dies zu erwägen. Aber inzwischen ist in den Vordergrund getreten, was sich von Beginn an abzeichnete. Dieser Krieg ist vor allem ein imperialer Krieg zwischen kapitalistischen Mächten. Zwischen Russland, das seine Sicherheit als bedroht wahrnimmt, seinen Einflussbereich ausweiten und seinen Abstieg als Großmacht militärisch abwenden will, und den USA und ihren Verbündeten, die den Verlust globaler Vormacht der Vereinigten Staaten militärisch verhindern und sich gleich noch durch die Schwächung Russlands den Rücken für eine konfrontative Politik gegenüber China frei machen wollen.

Das bestimmt den Charakter des Ukraine-Krieges, nicht die Polarisierung zwischen demokratischen und autoritären Staaten. Dieser imperiale Krieg darf nicht durch Waffenlieferungen verlängert werden! Die angebliche Alternative ist nicht der Untergang der Freiheit und der Ukraine, sondern die Garantie ihrer Souveränität, ihres Wiederaufbaus und ihrer Neutralität im Ergebnis von Verhandlungen.

Aber wenn es doch um die Verteidigung der Freiheit ginge?! Das ist eine ernst zu nehmende Frage auch für Linke. Der indische Nobelpreisträger Amartya Sen sieht allerdings »eine sehr elementare Freiheit im Mittelpunkt: die Fähigkeit zu überleben und nicht vorzeitig zu sterben«. Mit diesem Freiheitsverständnis bedacht, schlagen Waffenlieferungen an die Ukraine, wenn sie mit der Verlängerung des Krieges für Hunderttausende den Tod bedeuten, in das Gegenteil von Freiheit um. Ohne Frieden ist alles nichts – auch die Freiheit.

Viertens: Dass es einfach unrealistisch und naiv sei, in einer in Hochrüstung und Kriegstaumel befindlichen Welt auf Diplomatie und Verhandlungen zu setzen – trifft nicht wenigstens dies zu? Auch diese Frage hat Die Linke ernst zu nehmen. Die einfache Forderung »Waffen nieder!« ist eine Vision, jedoch mit realistischem Inhalt zu füllen. Das Konzept Gemeinsamer Sicherheit sieht eine Brücke zwischen Rüstung und Friedenspolitik vor.

Der Begriff dafür lautet »strukturelle Nichtangriffsfähigkeit«. Wenn in absehbarer Zeit eine Welt ohne Waffen nicht realisierbar sein wird, warum dann nicht wenigstens militärische Strukturen schaffen, die zwar weiter Sicherheit gegen jegliche Angriffe garantieren, die hinreichend für Verteidigung sind, aber untauglich für Angriffe! Die Verteidigungsfähigkeit beider gegnerischer Seiten wäre größer als die Angriffsfähigkeit des jeweiligen Gegenübers. Allerdings erfordert eine solche strukturelle Nichtangriffsfähigkeit nicht nur die Dominanz von Defensivwaffensystemen gegenüber Offensivwaffen, sondern angesichts der fließenden Grenzen zwischen beiden auch eine Einbettung in defensive Sicherheitsdoktrinen. Vertrauensbildende Maßnahme, Rückkehr zu Rüstungskontrolle und erste Abrüstungsvereinbarungen wären praktische Schritte auf dem Weg dahin.

Inzwischen ist in den Vordergrund getreten, was sich von Beginn an abzeichnete: Der Ukraine-Krieg ist vor allem ein imperialer Krieg zwischen kapitalistischen Mächten.

Zumindest wäre es ein diskussionswürdiger Anstoß von links, im Rahmen der Militärausgaben der Bundesrepublik solchen Ausrüstungsstrukturen zunehmendes Gewicht einzuräumen, die die Verteidigungsfähigkeit sichern, aber zu struktureller Angriffsunfähigkeit tendieren. Die Liste deutscher Rüstungsprojekte ist allerdings fern von solcher Idee. Dagegen hält beispielsweise Albrecht von Müller, wiederholt Regierungsberater und Gründungsdirektor des European Center for International Security, in einem von Julian Nida-Rümelin herausgegebenen Buch zum Ukraine-Krieg an struktureller Angriffsunfähigkeit als einem Grundprinzip Gemeinsamer Sicherheit mit Nachdruck fest.

Zur Herausbildung struktureller Nichtangriffsfähigkeit würde allerdings auch gehören, niedrigschwellige Atomwaffeneinsätze auszuschließen. Die vier großen deutschen Friedensforschungsinstitute haben in ihrem Friedensgutachten 2022 den Ausstieg der Bundesrepublik aus der nuklearen Teilhabe vorgeschlagen. Die Bundesregierung solle den Einsatz von Flugzeugen der Bundesrepublik als Träger amerikanischer Atombomben verweigern und sich dem Beschluss der UN-Generalversammlung über ein Atomwaffenverbot anschließen.

Fünftens: Dass für die Beendigung des Ukraine-Krieges die Rücknahme von russischen Annexionen zentral sei, weil der Aggressor nicht auch noch belohnt werden darf – ist dem nicht zuzustimmen? Natürlich entspricht diese Position einem gesunden Gerechtigkeitsempfinden. Doch Ines Schwerdtner vertritt wie andere zu Recht aus einer »Sichtweise von unten«, dass der Frieden auch schmerzliche Kompromisse wert ist, wenn sie von der ukrainischen Gesellschaft getragen würden, wenn sie dazu beitragen können, Russland zu einem Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen zu bewegen, wenn sie das Leben ungezählter Menschen retten und die Ukraine vor weiterer Zerstörung bewahren würden. Ohne Kompromisse wird auch im Nahen Osten der Frieden keine Chance haben, trotz tiefster Verletzungen und Hass auf allen Seiten. Auch Kompromissbereitschaft gehört zu den Elementen der Politik Gemeinsamer Sicherheit.

Sechstens: Dass alle Völker und Staaten gemeinsam von einem Atomkrieg bedroht, von der Umwelt-, Klima- und Biodiversitätskrise, von der Perspektive großer Bevölkerungswanderungen auf der Flucht vor Katastrophen und von möglichen Pandemien existenziell gefährdet sind – das steht außer Zweifel. Das ist die Grundsituation der menschlichen Zivilisation am Rande des Abgrunds. Die Antwort auf diese gemeinsame Bedrohung erfordert kategorisch Gemeinsame umfassende Sicherheit, das heißt gemeinsames, kooperatives Handeln. Aber die Friedensbewegung und selbst die plurale Linke sind sich der Doktrin Gemeinsamer Sicherheit als konzeptionelle Grundlage ihrer einzelnen Friedensbemühungen zu wenig bewusst. Die Friedensbewegung hat allen Anlass, das Konzept Gemeinsamer Sicherheit wieder zu politischer Geltung gegen die Abschreckungsdoktrin zu bringen.

In der »nd«-Serie »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« erschien zuletzt: »Aufbruch mit Selbstreflexion« von Nils Dietrich (»nd.DerTag« vom 28.10.2024).

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