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  • »Gemeinsam für Witzenhausen«

Den Krisen vereint entgegentreten

Die Initiative »Gemeinsam für Witzenhausen« setzt Solidarität und gegenseitige Hilfe gegen Polarisierung

  • Jens Herrmann
  • Lesedauer: 5 Min.
Essensausgabe bei der Nachbarschaftsküche
Essensausgabe bei der Nachbarschaftsküche

»Wir wollen nicht nur vorsorgen für die Krise, sondern wir sehen unser Engagement als Antwort auf die Krise«, sagt Ronja Zimmermann von Gemeinsam für Witzenhausen. Die umliegenden Tische im Saal des Kirchenzentrums in Witzenhausen sind bereits besetzt, Teller klappern, Menschen tauschen sich angeregt aus. Heute ist, wie immer am Dienstagabend, offene Nachbarschaftsküche, und altbekannte wie neue Gesichter kommen zusammen. Seit dem Nachmittag hat eines der Kochteams der Initiative geschnippelt und gebrutzelt, und jetzt werden rund 50 Mahlzeiten ausgegeben.

»Angefangen hat alles vor zwei Jahren«, berichtet Mitinitiator Pawel Handelmann. Im Krisenherbst 2022, als der Ukraine-Krieg sich verstetigt hatte und die Inflation immer höher stieg, dachte sich eine Handvoll überwiegend junger Menschen, dass Selbstorganisation und Solidarität in der Nachbarschaft eine Antwort auf all das sein könnte. Kurzerhand sprachen sie mit einigen wichtigen Leuten in der nordhessischen Stadt wie zum Beispiel der Pfarrerin und beriefen dann unter dem Motto »Gemeinsam durch den Krisenwinter« eine Versammlung ein, zu der mehr als 70 Menschen kamen. Rückblickend meint Zimmermann, es sei spannend gewesen, aus der eigenen »Blase« herauszutreten und mit so vielen unterschiedlichen Leuten in Kontakt und Austausch gekommen zu sein.

Im Laufe der zwei Jahre entstanden mehrere Projekte. »Das hat ein großes Potenzial«, sagt Zimmermann. »Viele Leute können halt viel erreichen.« Neben einem Nachbarschaftsgarten, mit dessen Gemüse auch in der Gemeinschaftsküche gekocht wird, haben sich eine Sozialberatung, ein Frauen*-Café, eine Gruppe für Bildung und Kultur sowie eine Arbeitsgruppe für Öffentlichkeit und Vernetzung gegründet.

Es geht auch anders

Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.

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Auf großes Interesse seien die Stadtrundgänge gestoßen, die von der Bildungs- und Kulturgruppe organisierten wurden, berichtet Pawel Handelmann. Dabei ging es um die Geschichte des jüdischen Lebens und um die Kolonialgeschichte Witzenhausens, die besonders ist: In der Stadt hatte nämlich die Deutsche Kolonialschule für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe ihren Sitz.

»Außerdem gab es eine Diskussion über unseren persönlichen Zugang zur Geschichte. Auf dem letzten Rundgang sind die städtische Infrastruktur und die Gestaltung des öffentlichen Raums, insbesondere des Leerstandes thematisiert worden.« Der betrifft ja viele kleine Städte. »Ziel muss es sein, neue Räume der Begegnung in der Innenstadt zu schaffen, möglichst ohne Konsumzwang, anstatt auf das alte Modell von Einzelhandelsansiedlung zu setzen, das ohnehin nicht mehr funktioniert«, ist Handelmann überzeugt.

Vor dem Ernteumzug: Die Initiative ist in der Stadt angekommen.
Vor dem Ernteumzug: Die Initiative ist in der Stadt angekommen.

Am 14. November sind Aktive der Initiative nach Berlin gefahren, um den »Deutschen Nachbarschaftspreis« für das Bundesland Hessen entgegenzunehmen. Er wird seit 2017 von der Stiftung »Nebenan.de« verliehen, die eine Tochterorganisation der gleichnamigen Internetplattform ist. 2000 Euro Preisgeld gab es. Da sich die Initiative ausschließlich aus Spenden finanziert, um unabhängig und überparteilich zu bleiben, ist die Summe für sie mehr als nur eine willkommene Anerkennung.

»Wir wollen einer Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken«, sagt Handelmann. Deshalb wollten sie sich nicht Parteien oder anderen Institutionen unterordnen. Stattdessen seien sie persönlich von Haustür zu Haustür gegangen, um Nachbarn von der Idee zu erzählen und sie einzuladen, bei ihrem Netzwerk mitzumachen. »Noch vor 50 Jahren war gegenseitige Hilfe in der Nachbarschaft auch in Deutschland viel selbstverständlicher«, erklärt er, »und auch heute gibt es in anderen Teilen der Welt erfolgreiche Beispiele für gesellschaftliche Selbstorganisation wie beispielsweise in Rojava oder in den zapatistischen Gemeinden des mexikanischen Bundesstaats Chiapas.« Aber eine Vernetzung mit anderen Gruppen in Witzenhausen ist der Initiative auch wichtig. So sei zum Beispiel zum jährlichen Tag der Nachbarschaft ein gemeinsames Fest im Stadtpark entstanden.

Die Nachbarschaftsküche war anfangs gar nicht dauerhaft geplant, aber dann haben die Aktiven schnell erkannt, welches Potenzial in ihr liegt und wie hier sehr Menschen zusammenkommen, die sonst kaum ein Wort miteinander reden würden: Studierende, Rentner*innen, Berufstätige, Arbeitslose, Kirchenvorstände, Geflüchtete. Im Nachbarschaftsrat, der alle zwei Monate tagt, seien auch der Kampf gegen Abschiebungen oder die unhaltbaren Zustände in der örtlichen Flüchtlingsunterkunft ein Thema gewesen.

»Wir wollen nicht nur vorsorgen für die Krise, sondern wir sehen unser Engagement als Antwort auf die Krise.«

Ronja Zimmermann Gemeinsam für Witzenhausen

Dass diese Aktivitäten in einem kürzlich ausgestrahlten Radiobeitrag des Hessischen Rundfunks über Gemeinsam für Witzenhausen nicht beachtet wurden, ärgert Zimmermann und Handelmann. Schließlich sei die Initiative weit mehr als eine Suppenküche mit Garten. Gerade in ländlichen Regionen, wo sich der Staat immer mehr aus seinen Kernaufgaben zurückziehe, sei die Solidarität und nachbarschaftliche Organisierung eine Notwendigkeit in der Krise und nicht bloß »ehrenamtliches Engagement«. Inzwischen hätten das auch die Stadt- und Kreisverwaltung erkannt und nähmen Gemeinsam für Witzenhausen wahr, erzählt Handelmann.

Als in diesem Jahr plötzlich Nazi-Aufkleber und Hakenkreuzschmierereien im Stadtbild und sogar in der Kirche auftauchten, war dies ein dringliches Thema im Nachbarschaftsrat. Bald fand sich eine Gruppe, die diese aus dem Stadtbild entfernte. Denn diskriminierendes oder fremdenfeindliches Verhalten oder solche Ideologien will Gemeinsam für Witzenhausen nicht hinnehmen.

»Vor allem die regelmäßig Aktiven aus der Initiative haben ein Auge darauf, dass die Grundwerte, die wir uns gegeben haben, nicht verletzt werden«, erklärt Handelmann. »Notfalls müssen auch Leute rausgeschmissen werden, aber das versuchen wir zu vermeiden.« Schließlich gehe es darum, mit den Menschen in Austausch zu sein und sich für einen solidarischen und respektvollen Umgang aller miteinander einzusetzen. »Wir versuchen dann auch, mit Menschen im Gespräch zu bleiben und sie nicht einfach abzuschreiben.« Er erzählt von einem Fall, in dem es ihnen gelungen sei, einen Nachbarn, der zum AfD-Stammtisch gegangen sei, wieder zurückzugewinnen.

Die Vision von Gemeinsam für Witzenhausen ist, dass sich Initiativen überall in der Region gründen, auch in den umliegenden Dörfern und Kleinstädten. Diese könnten sich dann, so Handelmann, in einem Gebiets- oder Regionalrat mit Delegierten zusammenfinden. »So könnte eine gesellschaftliche Selbstverwaltung von unten entstehen.«

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