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Sandmännchen: Wohliger Anachronismus

»Unser Sandmännchen« wird 65 – und die ARD feiert es mit Rückblicken, Kurzfilmspecials und dezenter Modernisierung

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Hat bis jetzt noch jede*n ins Bett gekriegt: Das Sandmännchen
Hat bis jetzt noch jede*n ins Bett gekriegt: Das Sandmännchen

In aufgeklärter Zeit wird sogar der bürgerliche Vorabend im Fernsehen ein bisschen diverser. Keine Seifenoper ohne schwules Paar, kein Krankenhaus ohne Klinikleiterin. Im »Großstadtrevier« ermitteln Schwarze, am Watzmann auch. Und ein echtes Fernsehfossil stellt sich jetzt gesellschaftlich fast so breit auf wie die Realität ringsum. Wenn es um 17.40 Uhr auf eine Plattenbausiedlung zuläuft, spielt dort nämlich ein Mädchen im Rollstuhl mit Freunden, die weit weniger deutsch aussehen als in der dienstältesten Kindersendung sechseinhalb Jahrzehnte lang üblich: das Sandmännchen. Genauer: »Unser Sandmännchen«.

Schon bei seiner Fernsehpremiere am 22. November 1959 verbrüderte das Possessivpronomen den Märchenwichtel – dessen Kinnbart kaum zufällig an den Walter Ulbrichts erinnerte – mit dem realsozialistischen Nachwuchs. Und der reagierte prompt. Als ihr Sandmännchen zum Auftakt nach getaner Arbeit in aller Öffentlichkeit einschlief, boten ihm zahlreiche Kinder das eigene Bettchen an.

Die Corporate Identity genannte TV-Verbindung zwischen Publikum und Programm, sie funktionierte von Beginn an bestens.

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Die Corporate Identity genannte TV-Verbindung zwischen Publikum und Programm, sie funktionierte von Beginn an bestens. Sogar so gut, dass die schweigsame Figur in ihren Fantasiefahrzeugen gelegentlich mal bei der Nationalen Volksarmee oder bei Grenzschutzpionieren aufschlug und trotzdem der erfolgreichste West-Export jener kalten Kriegstage war. Nur neun Tage nämlich, nachdem das DFF-Original östlich der Elbe auf Sendung gegangen war, startete westlich davon die SFB-Kopie. Umso interessanter, dass ziemlich genau 30 Jahre später nicht wie gewohnt die BRD-Figur den Mauerfall überlebte, sondern das DDR-Modell.

Es war ein später Triumph für den legendären Defa-Animateur Gerhard Behrendt, der seinen Star einst in weniger als zwei Wochen kreiert und zur Röhrenbildschirmreife gebracht hatte. Das Erste feiert dies entsprechend groß. Zum einen mit der großen RBB-Doku »65 Jahre Unser Sandmännchen«, begleitet von Wiederholungen älterer Folgen in der ARD-Mediathek. Zum anderen mit dem Geburtstags-Special »Die Reise zur Traumsandmühle«.

Aus dem Off erzählt von Florian David Fitz, entführt Stefan Schomerus’ Kurzfilm sein blutjunges Publikum aus einer tristen Hochhaussiedlung in verschneite Bergwelten, wo das Sandmännchen mithilfe restaurierter Geräte aus dem Fundus des Serienerfinders Behrendt neuen Schlafsand mahlt. Das Geheimnis der Sendung bewahrt also auch in unserer krisengebeutelten Epoche seinen Zauber. Womöglich sogar mehr denn je. Schweigsam wie immer lässt der stilisierte Gartenzwerg schließlich lieber Bilder als Worte sprechen.

Es sind handgemachte Stop-Motion-Werke fernab der animierten Hektik konkurrierender Kinderkanäle von SuperRTL über Disney bis Nickelodeon, in denen selbst die Kleinsten schon Splitscreens und Zappelschnitte verarbeiten. Beim Sandmann passiert dagegen weder im Vorspann aus DDR-Zeiten, dem der RBB nun acht neuere Versionen hinzufügt, noch in den dreiminütigen Sketchen danach allzu viel.

Zeichentrickfiguren wie der kleine Rabe Socke oder Handpuppen wie die Erdmännchen Jan & Henry sind demnach vor allem kleinkindgerecht, aber nicht annähernd so unverwüstlich wie Pittiplatsch und Schnatterinchen. Beide haben zum 60. Sandmännchen-Geburtstag eine Frischzellenkur bekommen. Wenngleich ohne die Beschleunigung wesensverwandter Serien wie »Biene Maja« oder »Wickie«. Während solche Siebziger-Relikte längst am Computer statt am Zeichenbrett entstehen und dort Großteile ihres alten Zaubers elaborierter Ereignislosigkeit verlieren, wurde beim Kobold und seiner befreundeten Ente nur die Ausstattung geändert.

Optisch ist also vieles von dem, was das Studio Hamburg da im RBB-Auftrag aufgebaut hatte, ein bisschen aufwendiger, bunter, professioneller. Wenn sich der Stress jedoch in einer Harke erschöpft, auf die irgendeines der niedlichen Tiere tritt, bleibt es auch nahezu 70 Jahre nach Pittiplatschs Fernsehdebüt unaufgeregt genug, um Vorschüler vor der Bettruhe auf amüsante Art schläfrig, nicht wach zu machen.

»Unser Sandmännchen« ist folglich zwar ein (n)ostalgisches Relikt der DDR, die vielerorts nur in einer Handvoll überlebender Marken wie Halloren-Kugeln oder »Polizeiruf 110« sichtbar ist. Mehr noch aber bleibt es der wohligste Anachronismus im wiedervereinten Fernsehland. Auch deshalb sehen es durchschnittlich eine Million Menschen dreier Generationen Abend für Abend, 365 Tage im Jahr, bei RBB, MDR oder KiKa – ausgefallen ist der Abendgruß in 65 Jahren angeblich nur ein einziges Mal am Superlandtagswahlsonntag des 14. Oktober 1991.

»Die Reise zur Traumsandmühle«, 20-minütiges Special, Freitag, 22.11., 17.40 Uhr (RBB);
»65 Jahre Unser Sandmännchen – Eine Reise durch die Jahrzehnte«, Samstag, 23.11., 17.05 Uhr (RBB).

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