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Merkels langer Schatten
Leo Fischer über die anhaltende Wirkung der heimlichen SPD-Vorsitzenden
16 Jahre hat Angela Merkel Deutschland regiert. 400 der 700 Seiten ihrer Memoiren befassen sich mit ihrer Regierungszeit – in den Augen ihrer Interviewer*innen vom »Spiegel« sind das zu wenig. Und nicht nur Journalist*innen erwarten sich die Beantwortung letzthinniger Fragen von diesem Buch. Die ganze zeitgenössische politische Landschaft ist durch Merkels Entscheidungen – oder Nicht-Entscheidungen – gezeichnet; noch in Abwesenheit wird sie in einer Weise mystifiziert, dass man fast von einer negativen Theologie sprechen könnte. Ohne Merkel, so will es die Mystifikation, keine »Flüchtlingskrise«, keine AfD, kein Rechtsruck. Ohne Merkel keine Kompromisse bei Russlands erstem Krieg gegen die Ukraine, kein »Weiter so« bei Nord Stream 2, keine Abhängigkeit von Putin. Fast jeder (Betonung liegt auf dem männlichen Genus) hat eine Theorie, warum ausgerechnet an seiner Lieblingskatastrophe ausgerechnet Merkel schuld ist.
Bei solcherlei Machtzuschreibung ist natürlich eine gehörige Portion Misogynie im Spiel. Wenn Merkel sich im »Spiegel«-Interview indirekt mit Kamala Harris vergleicht, ist das deshalb nur zur Hälfte Koketterie. Auch der US-Wahlkampf war von Misogynie gezeichnet: Die Idee, von einer Frau regiert zu werden, war für viele derart verstörend, dass sogar schwarze und Latino-Männer lieber einen Bilderbuch-Rassisten wählten, der ihnen objektiv Böses will. Die aktuelle CDU-Konstellation, mit ihren fast täglichen reaktionären Entgleisungen, ist ebenfalls geprägt von nachholender Misogynie: Das Gefühl, 16 Jahre lang kastriert, entmännlicht worden zu sein, ist aus jeder patzigen Geste des aktiven CDU-Personals herauszulesen. Gerade verstieg sich der Vorsitzende Merz wieder einmal zu Sätzen wie »Wir schaffen es nicht ohne Frauen« – das CDU-Subjekt wird schon als Mann gedacht, zu dem Frauen nur irgendwie Zierrat sind. Mehr noch als gegen vermeintliche Wokeness richtet sich der konservative Backlash gegen die eigene, als Schmach empfundene Verweiblichung durch Merkel, die jetzt rückgängig gemacht werden muss – kulturell soll das Land ins Zeitalter Helmut Kohls zurückgebombt werden
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft
Auch die SPD ist noch in einem Post-Merkel-Schock. Überall in Scholzens tapsigem Regierungshandeln war der Versuch zu erkennen, die Gemütsruhe und genialische Aussitzerei seiner ehemaligen Chefin in der Großen Koalition nachzuahmen, das intellektuelle Drüberstehen – vollkommen vergebens. Merkel war die heimliche SPD-Vorsitzende; und in ihrem ganzen Denken ist diese Partei noch immer auf Große Koalitionen mit Merkel geeicht, die es so nie wieder geben wird.
Die 16 Jahre Merkel werden oft als Zeit des Stillstands beschrieben – aber wie viel moderner, stabiler, demokratischer erscheinen sie jetzt, vor dem Hintergrund freidrehender Lackaffen vom Schlage eines Lindner, Merz, Söder? Wie alle großen Herrscher hat Merkel vergessen, für ihre Nachfolge zu sorgen – und ein Erbe zu hinterlassen. Gleich, wer nach Scholz kommt: Niemand wird uns auf so glückliche Art in Ruhe lassen wie Merkel.
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