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Organisation B’Tselem: »Jedes Menschenleben schützen«
Shai Parnes über den Einsatz von B’Tselem für Menschenrechte und über die Politik der israelischen Regierung
Seit Jahrzehnten bringt B’Tselem israelische und palästinensische Menschenrechtsverteidiger*innen zusammen. Hatte der Hamas-Angriff vom 7. Oktober Auswirkungen auf die Beziehung zwischen israelischen und palästinensischen Mitarbeiter*innen der Organisation?
Wir waren alle schockiert über den Angriff, die Gräueltaten und die Aufnahmen am Morgen des 7. Oktober. Es war wirklich entsetzlich, und es gab Gefühle von Entsetzen, Schock und Angst in ganz Israel. Innerhalb unseres Teams hatten wir schwierige Gespräche und harte Zeiten. Aber ich glaube, wir sind als Organisation gestärkt daraus hervorgegangen. Wir haben weitergemacht, was wir schon immer getan haben: jedes Menschenleben in der Region wertzuschätzen und zu schützen, egal, um wen es sich handelt. Kurz nach dem israelischen Angriff auf Gaza kamen wir erneut zu dem Schluss, dass es für diese Region keine Zukunft oder Hoffnung gibt, wenn wir nicht alle Menschen gleich behandeln – Israelis, Palästinenser und jeden anderen.
Das Aufbauen von Vertrauen in palästinensischen Gemeinschaften ist entscheidend für B’Tselems Arbeit vor Ort. Wie baut B’Tselem Beziehungen zu Palästinensern*innen auf, die möglicherweise gegenüber Außenstehenden oder Organisationen, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, skeptisch sind?
Die Hälfte unserer Mitarbeiter und Abteilungsleiter sind Palästinenser*innen. Wir arbeiten eng zusammen, und so präsentieren wir uns auch nach außen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass auch unsere Feldforscher im Westjordanland und in Jerusalem Palästinenser sind. Sie gehören zu den (lokalen) Gemeinschaften, was es erleichtert, Kontakte zu knüpfen. Informationen aus Gaza zu erhalten ist in der Tat schwierig aufgrund der extremen Bedingungen, denen die Menschen dort ausgesetzt sind. Aber wir tun unser Bestes, um herauszufinden, was wirklich vor Ort geschieht. Wir haben Kontakte in Gaza sowie zu Personen, die es geschafft haben, aus dem Gebiet zu fliehen, aber immer noch Freunde und Familie dort haben. Wir bleiben unserem Grundsatz treu, wahrheitsgemäß und zuverlässig zu sein. Deshalb genießt B’Tselem sowohl international als auch innerhalb der palästinensischen Gesellschaft und Gemeinschaften Respekt.
Shai Parnes ist Sprecher der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem. Seit ihrer Gründung 1989 konzentrierte sich B’Tselem darauf, die israelische Besatzung und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten öffentlich zu machen. Durch Zeugenaussagen, Fotografien und Videos spielt B’Tselem eine Schlüsselrolle bei der Dokumentation der Auswirkungen der Besatzung auf das tägliche Leben der Palästinenser*innen.
Das Interview wurde einige Tage vor der Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, einen Haftbefehl gegen Israels Ministerpräsident Netanjahu zu erlassen, geführt. ef
Der jüngste Bericht von B’Tselem hebt die Folter und Misshandlung palästinensischer Gefangener in israelischer Haft hervor und beschreibt israelische Gefängnisse als ein »Netzwerk von Folterlagern«. Wie ist Ihr Team bei der Sammlung der Zeugenaussagen für den Bericht vorgegangen?
Als wir die ersten Zeugenaussagen hörten, dachten wir: Okay, das könnten Ausnahmefälle sein. Wir interviewten die Gefangenen, überprüften ihre Berichte und veröffentlichten diese ersten Zeugenaussagen. Doch bis Februar und März, als viele weitere palästinensische Gefangene aus der Administrativhaft in israelischen Einrichtungen entlassen wurden, hörten wir immer wieder dieselben Berichte: Schläge, Erniedrigungen, Entzug von Nahrung, Schlaf und medizinischer Versorgung etc. Da erkannten wir ein Muster und entschieden, es als formelles Projekt anzugehen. Insgesamt sammelten wir 55 Zeugenaussagen von Personen aus der gesamten Region – Bewohner des Westjordanlandes, Jerusalems und Gazas und sogar einige palästinensische Staatsbürger Israels. Diese Personen, die in 16 verschiedenen Einrichtungen festgehalten wurden, gehörten beiden Geschlechtern, verschiedenen Altersgruppen und Hintergründen an. Sie kannten sich nicht, doch ihre Geschichten hatten auffällige Gemeinsamkeiten. Da diese Behandlung durchweg in 16 Haftanstalten gemeldet wurde, einige vom Militär betrieben und die meisten vom israelischen Gefängnissystem, mussten wir schlussfolgern, dass diese Misshandlungen systematisch waren. Deshalb bezeichnen wir die israelischen Gefängnisse als ein »Netzwerk von Folterlagern«.
Sogar Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft berichteten, gefoltert worden zu sein?
Ja, es gab vier Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, die wir ebenfalls im Bericht erwähnt haben. Sie wurden wegen Beiträgen in Sozialen Medien verhaftet. Einer von ihnen wurde während einer Demonstration festgenommen. Ich muss auch sagen, dass die meisten, die ihre Zeugenaussagen gaben, ohne jegliche Anklage freigelassen wurden.
In Deutschland und allgemein im Westen besteht oft der Eindruck, dass zumindest Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft die gleichen Rechte wie jüdische Israelis genießen.
In einem Apartheid-Regime werden Menschen unterschiedlich behandelt, je nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Nicht alle Personen unter diesem Regime erhalten die gleiche Behandlung vor dem Gesetz. Es gibt ein Gesetzessystem für Bewohner*innen Gazas, ein anderes für Palästinenser*innen im Westjordanland, ein weiteres für Palästinenser*innen in Ostjerusalem und ein separates System für Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft.
Es stimmt, dass Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft mehr Rechte haben als jene, die im Westjordanland oder Gaza leben, da sie einige bürgerliche Rechte besitzen. Aber es gibt immer noch viele Regeln im israelischen System, die selbst Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft diskriminieren. Gleichzeitig genießt jede Person, die jüdisch ist, in der gesamten Region, vom Jordan bis zum Mittelmeer, volle Privilegien und Rechte, unabhängig davon, wo sie lebt.
Siedlergewalt ist ein anhaltendes Problem im Westjordanland. Israels Finanzminister Bezalel Smotrich hat kürzlich über X (ehemals Twitter) angekündigt, das Westjordanland im Jahr 2025 annektieren zu wollen. Welche Auswirkungen hätte eine solche Annektion?
Israel ist ein Apartheidstaat. Die Politik der Expansion, des Siedlungsbaus, der Landnahme im Westjordanland und der Vertreibung von Palästinenser*innen – das ist nichts Neues. Wir beobachten das und berichten darüber seit Jahrzehnten. Der Unterschied besteht darin, dass die israelische Regierung nun offener darüber spricht. Die gesamte Region wird von der israelischen Regierung kontrolliert, und die aktuelle Situation spiegelt dies wider, mit einer Politik, die darauf abzielt, Siedlungen auszubauen, Land zu beschlagnahmen und Palästinenser*innen zu vertreiben.
Seit dem 7. Oktober hat die Siedlergewalt zugenommen. Siedlergewalt ist ein inoffizieller Arm der israelischen Staatsgewalt. Wenn die israelischen Behörden sie stoppen wollten, könnten sie es tun. Wir haben viele Fälle gesehen, in denen diese Siedlerangriffe entweder von israelischen Kräften begleitet oder sogar unterstützt wurden. Daher sind die Aufrufe zur ethnischen Säuberung von hochrangigen Politikern wie Ben Gwir und Smotrich nicht überraschend. Genau das passiert derzeit im Norden des Gazastreifens.
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Die IDF erklärte kürzlich, dass die Bewohner*innen des nördlichen Gazastreifens nicht in ihre Häuser zurückkehren dürfen.
Ende Oktober haben wir eine Pressemitteilung mit dem Titel »Die Welt muss die ethnische Säuberung im Norden Gazas stoppen« veröffentlicht. Tatsächlich braucht die internationale Gemeinschaft unsere Pressemitteilung nicht, um zu verstehen, was in Gaza passiert. Man kann sich die Aussagen von Ben Gwir und Smotrich ansehen, die hochrangige Minister in der israelischen Regierung sind und offen darüber sprechen. Sie gehören zu den einflussreichsten Persönlichkeiten in Israel. Man muss das nicht interpretieren – sie haben offen gesagt, dass dies genau das ist, was sie vorhaben: die Vertreibung von Palästinenser*innen und die Wiederbesiedlung von Gaza.
B’Tselem hat zusammen mit 14 anderen Menschenrechts- und zivilgesellschaftlichen Organisationen erhebliche Bedenken hinsichtlich der Resolution des Deutschen Bundestages zum »Schutz jüdischen Lebens« geäußert. Die Hauptsorge besteht darin, dass diese Resolution die Meinungsfreiheit einschränken könnte, insbesondere für diejenigen, die sich für die Rechte der Palästinenser*innen einsetzen …
Eine beträchtliche Anzahl derjenigen, die in Deutschland und weltweit wegen ihres Einsatzes gegen Menschenrechtsverletzungen schlecht behandelt werden, ist tatsächlich jüdisch. Die Formulierung der Erklärung konzentriert sich jedoch nicht auf die schlechte Behandlung von Juden, sondern zielt darauf ab, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die die Politik der israelischen Regierung kritisieren.
Es gibt auf der ganzen Welt Jüdinnen und Juden mit unterschiedlichen Meinungen zu verschiedenen Themen. Es ist wichtig, die israelische Regierung oder den israelischen Staat nicht mit Jüdinnen und Juden weltweit zu verwechseln. Wie jede andere ethnische Gruppe sind Juden nicht homogen. Einige kritisieren die Aktionen der israelischen Regierung, während andere sie unterstützen. Wenn man Jüdinnen und Juden oder jede andere Gruppe schützen möchte, muss man allen die Möglichkeit geben, ihre Ansichten frei zu äußern – nicht nur denjenigen, deren Meinung man teilt.
Seit dem 7. Oktober sieht sich Ihre Organisation verstärkten Angriffen auf Ihre Arbeit durch die rechtsextreme Regierung Israels ausgesetzt. Welche Folgen hat dies auf Ihre Arbeit?
Wir haben einige Angriffe auf unsere veröffentlichten Berichte erhalten, aber ich kann sagen, dass dies unsere Arbeit nicht beeinträchtigt hat. Von Zeit zu Zeit wurden wir verbal angegriffen und in den sozialen Medien ins Visier genommen. Wir mussten uns mit einigen falschen Behauptungen und Anschuldigungen auseinandersetzen. Die eigentliche Gefahr betrifft jedoch unser palästinensisches Personal. Viele stammen aus dem Westjordanland und sind ständig gefährdet, da sie, wie erwähnt, unter der Besatzung keine politischen Rechte haben.
Welche Rolle sollten internationale Gremien bei der Klärung rechtlicher Fragen spielen, die sich aus dem Krieg ergeben?
Die internationale Gemeinschaft muss die israelische Regierung unter Druck setzen, die ethnische Säuberung im Norden Gazas zu stoppen, einem Austauschabkommen zuzustimmen, den Krieg zu beenden und die Gewalt in den besetzten Gebieten zu beenden. Jeden Tag, den der Krieg andauert, zahlen Menschen mit ihrem Leben.
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