»Ein Wendepunkt bei der Abschaffung der Demokratie«

Der Soziologe Edgardo Lander über die Krise in Venezuela und die autoritäre Transformation seines Landes

  • Interview: Ulrich Brand und Kristina Dietz
  • Lesedauer: 7 Min.
Protest von Angehörigen gegen die Inhaftierung venezolanischer Oppositioneller.
Protest von Angehörigen gegen die Inhaftierung venezolanischer Oppositioneller.

Im Juli fanden in Venezuela Präsidentschaftswahlen statt. Kurz nach den Wahlen erklärte der Nationale Wahlrat Amtsinhaber Nicolas Maduro mit 51 Prozent der Stimmen zum Wahlsieger. Obwohl es Proteste wegen Wahlbetrugs gab und selbst die linken Regierungen Kolumbiens und Brasiliens die Offenlegung der Wahlunterlagen forderten, ist Maduro weiter im Amt. Wie ist die Stimmung im Land?

Die Geschehnisse rund um die Wahl haben die venezolanische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Die Wahlbeteiligung war mit 73 Prozent sehr hoch. Es waren unabhängige Wahlbeobachter*innen unterwegs, und am Ende des Wahltages gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Regierung verloren hatte. Der Mythos, die venezolanische Gesellschaft stehe hinter dem Chavismus, wurde an diesem Tag zerstört.

Maduro hat sich daraufhin für den Weg der Repression entschieden. In den Tagen nach der Wahl wurden mehr als 2000 Personen inhaftiert, etwa 100 Jugendliche wurden unter dem Vorwurf des Terrorismus festgenommen. Dieses Vorgehen hat die Bevölkerung eingeschüchtert. Ein Aufstand, der die Regierung bedrohen könnte, ist aktuell keine Option. Die venezolanische Gesellschaft hat auch nicht den Organisationsgrad, mit dem so ein Aufstand erfolgreich sein könnte.

Interview

Edgardo Lander ist Soziologe und ein renommierter Kritiker der lateinamerikanischen Öl-Ökonomien. Als Hochschullehrer an der Universidad Central de Venezuela spielte er für die unabhängige kritische Linke seines Landes über viele Jahre eine wichtige Rolle. Schon früh kritisierte er den Personenkult um Präsident Hugo Chávez, weil er sie für einen Widerspruch zum proklamierten Aufbau einer Rätedemokratie hielt, und forderte eine kritische Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Stalinismus in den sozialistischen Staaten ein.
Geführt wurde das Interview von Ulrich Brand, Professor für Politik an der Universität Wien, und Kristina Dietz, Professorin für Politik an der Universität Kassel.

Was für Konsequenzen hat das?

Was in Venezuela gerade passiert, ist die Etablierung eines eines zivil-militärisch-polizeilichen Regimes. Nach den Wahlen gab es eine gemeinsame Pressekonferenz der Oberkommandos von Militär und Polizei, auf der Maduro absolute Rückendeckung zugesichert wurde. Schon in den letzten Jahren hat sich das Land Richtung Autoritarismus entwickelt – etwa die Gesetze gegen Hass, Terrorismus oder Faschismus, mit denen die Befugnisse der Regierung systematisch ausgeweitet worden sind. Konzepte wie Hass oder Terrorismus können bekanntlich immer eingesetzt werden, um politische Gegner auszuschalten. Insofern ist der 28. Juli 2024 keine improvisierte Reaktion auf eine Wahlniederlage, sondern markiert einen Wendepunkt bei der Abschaffung der Demokratie.

Sind Sie davon ausgegangen, dass Maduro einen Sieg der Opposition akzeptieren würde?

Nachdem die Opposition viele Jahre lang zur Wahlenthaltung aufgerufen hatte, um die Regierung zu delegitimieren und vielleicht sogar eine US-Intervention zu provozieren, hatte sie sich diesmal zur Teilnahme entschieden. Den meisten möglichen Kandidat*innen wurde eine Teilnahme verweigert, sodass am Ende fast zufällig Edmundo González als Oppositionskandidat übrig blieb. Für die Mehrheit der Bevölkerung ging es zu diesem Zeitpunkt nur noch darum, Maduro zu besiegen. Und so hatte ein fast unbekannter Kandidat nach nur zwei Wochen mehr Unterstützung in der Bevölkerung als der Präsident.

Allerdings gab es dann wenig Debatten darüber, wie ein »paktierter Übergang« aussehen könnte. Am Ende von autoritären Regierungen stellt sich ja immer auch die Frage, wie sich die Kosten des Verbleibs in der Regierung erhöhen und die Kosten des Machtverlusts senken lassen. Die Oppositionsführerin María Corina Machado sprach davon, dass Maduro ins Gefängnis gehen sollte, die US-Regierung lobte eine Belohnung von 15 Millionen Dollar aus, um den »Verbrecher« zu fassen. Das alles machte Verhandlungen unmöglich. Die Opposition und US-Regierung haben in gewisser Weise dazu beigetragen, dass sich Maduro radikalisierte.

Wie ist die wirtschaftliche Situation im Land?

Ein bekannter Wirtschaftswissenschaftler hat vor kurzem ironisch angemerkt, die Lage der venezolanischen Wirtschaft sei stabil – konstant katastrophal. Das Inlandsprodukt ist nur noch etwa 20 Prozent so hoch wie vor zehn Jahren. So etwas kommt normalerweise nicht einmal in Kriegszeiten vor. Dementsprechend ist auch die Beschäftigungslage verheerend. Der Mindestlohn liegt bei drei Dollar im Monat, das Bildungs- und Gesundheitssystem brechen zusammen. In den Grundschulen kommen die Lehrer*innen oft nur zwei Tage in der Woche zum Unterrichten, weil sie sich im Rest der Woche andere Einkommensquellen zu erschließen versuchen. Die Krankenhäuser erfüllen nicht die Anforderungen des öffentlichen Gesundheitswesens, die Zahl der Krankenschwestern, die das Land verlassen haben, ist extrem hoch. Insgesamt sind 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung emigriert.

Inwieweit zieht der politisch-militärische Block wirtschaftliche Vorteile aus der aktuellen Situation?

Schon unter [dem ehemaligen Staatspräsidenten, Anm. d. R.] Chávez hatte das Militär viel Macht, was die Ausbreitung der Korruption begünstigte. Ein entscheidender Ort war die für Verteilung von Devisen zuständige staatliche Stelle. Die Differenz zwischen dem dort ausgegebenen offiziellen Dollar und dem Marktdollar betrug häufig zehn zu eins. Wer zum offiziellen Umtauschkurs an Dollars kam, konnte sich also enorm bereichern. Mit einem Wechsel an der Spitze der Zentralbank flog das alles auf. Die neue Chefin stellte fest, dass in jenem Jahr Ausgaben in Höhe von 20 Milliarden Dollar nicht belegt waren.

Die Zentralbankchefin wurde daraufhin schnell wieder entlassen.

Natürlich. Und mit Maduro hat sich die Korruption weiter verschlimmert. Chávez kam aus dem Militär, er genoss dort aus politischen und ideologischen Gründen Unterstützung. Nicht so bei Maduro, der sich die Treue der Militärs dadurch erkaufen musste, dass er seine Macht mit ihnen teilte. Dazu kommt, dass die Regierung in den letzten 25 Jahren nie ein eigenständiges wirtschaftliches Projekt entwickelte. Im Zentrum stand immer die Verteilung des Ölüberschusses. Als diese Überschüsse abnahmen, fehlten die Möglichkeiten für Investitionen, technologische Innovationen und Betriebsmittel. Die Wirtschaftssanktionen der USA haben ein Übriges getan. Beides zusammen hat Venezuelas Ökonomie zerstört.

Gibt es mittlerweile wieder internationale Investitionen in Venezuela?

Im Oktober 2023 war in der Presse zu lesen, die Regierung Biden habe die Genehmigung für Chevron, in Venezuela Öl zu fördern und in die USA zu exportieren, bis April kommenden Jahres verlängert. Die USA verfolgen hier offenbar verschiedene Interessen. Zum einen wollte Washington die Lage in Venezuela kurzfristig stabilisieren, um die politischen Kosten anwachsender Migration im Wahlkampf gering zu halten. Nur so ist zu erklären, dass die US-Regierung auf den Wahlbetrug nicht mit mehr Sanktionen reagiert hat.

Zum anderen bestimmen der langfristige geopolitische Wettbewerb mit China und der Krieg in der Ukraine die US-Außenpolitik in Bezug auf Venezuela. Die Vereinigten Staaten sind daran interessiert, mehr Öl – zur Not eben auch aus Venezuela – auf den Markt zu bringen, damit die europäischen Staaten nicht in die Versuchung geraten, fossile Energien wieder aus Russland zu kaufen.

Und wie ist die Position Chinas?

China hat die Geduld mit Venezuela verloren. Unser Land schuldet Peking etwa 60 Milliarden Dollar an Krediten, die es vermutlich auch in Zukunft nicht bezahlen wird. Dementsprechend gibt es praktisch keine ökonomische Unterstützung aus China mehr. Zwar arbeiten auch weiterhin chinesische Unternehmen etwa im Bereich Infrastruktur oder Ölförderung in Venezuela. Die jedoch unterscheiden sich in Bezug auf Ausbeutung nicht von anderen transnationalen Unternehmen.

Welche Rolle spielen die Rücküberweisungen der sieben bis acht Millionen Migrant*innen für die Stabilität der Wirtschaft?

Ich kenne keine verlässlichen Schätzungen. Ein beträchtlicher Teil der Menschen, die das Land verlassen haben, sind arm, verdienen in den Ankunftsländern wenig und überweisen dementsprechend nur geringe Summen an ihre Familien. Doch für eine Familie, die einen Mindestlohn von drei Dollar monatlich bezieht, macht eine Überweisung von 50 Dollar natürlich einen großen Unterschied.

Unter Chávez war Venezuela eine Referenz für die globale Linke. Was können wir als internationalistische Linke aus den letzten 25 Jahren in Venezuela lernen?

Ich glaube, es braucht eine Selbstkritik. Es gab ja schon früh autoritäre Tendenzen – etwa den Messianismus um die Figur von Chávez, die massive Präsenz der Militärs, das Fehlen eines alternativen Produktionsmodells. In den ersten Jahren unter Chávez war die Basisorganisierung oft spontan und inklusiv und ging mit sozialen Errungenschaften wie der Alphabetisierung oder der Verbesserung der Gesundheitsversorgung einher. Aber die Entscheidung von Chávez im Jahr 2007, eine sozialistische Einheitspartei zu gründen, stellte eine Zäsur dar. Den demokratischen Basisorganisationen wurden etatistische Vorstellungen aufgepfropft. Es wurde ein Institutionengefüge aufgebaut, bei dem von oben vorgegeben wurde, wie die kommunalen Räte aussehen sollten. Ich denke, dass wir den Begriff des Sozialismus aufgeben müssen. Das Lagerdenken und die Logik des Kalten Krieges, die in Teilen der Linken weiterhin großes Gewicht haben, schaden der Linken zutiefst. Wenn wir eine Regierung, die autoritär, repressiv, korrupt und extraktivistisch ist, »links« nennen, stehen wir faktisch auf der Seite der Rechten.

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