BVG und S-Bahn auf Crashkurs

Die Perspektiven für den Berliner Nahverkehr sind düster – nur bei den neuen U-Bahnzügen scheint der Durchbruch gelungen

Gemeinsam in eine düstere Zukunft: S- und U-Bahn an der Bahnstation Wuhletal
Gemeinsam in eine düstere Zukunft: S- und U-Bahn an der Bahnstation Wuhletal

Wenn es besonders schlimm wird, werden Menschen still. Es ist sehr still in der morgendlichen U5 Richtung Innenstadt. Gerade hat sie den Bahnhof Samariterstraße verlassen. Ein junger Vater hat soeben versucht, mit dem Kinderwagen in den vollkommen überfüllten Wagen zu kommen. Auch die Türen aggressiv zu blockieren, half dabei nichts.

Auf dem Bahnsteig verbleibt auch eine ältere Rollstuhlfahrerin. Es ist nicht der erste Zug, in den sie nicht hineinkommt. Stille Verzweiflung ist in ihrem Gesicht zu lesen. Aus den Lautsprechern am Bahnsteig wird verkündet, dass nur die Anzeigen spinnen, aber die Züge regulär fahren.

Ein ganz normaler Morgen für Nutzer der Berliner U-Bahn. Auf der U5 läuft es allerdings noch etwas besser als auf U1 und U3, auf denen auch mal 18 Minuten lang kein Zug kommt.

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»Seit rund einem Monat hat sich die Lage bei der Berliner U-Bahn, gegenüber den letzten Sommerwochen, stabilisiert. Auf allen Linien gibt es ein stabileres Angebot«, antwortete die Pressestelle der BVG vor zwei Wochen auf eine Anfrage von »nd«. Über 95 Prozent der geplanten Fahrten fänden statt.

»Rund acht bis zehn Prozent der Fahrten fallen bei der U-Bahn Tag für Tag aus«, sagt hingegen ein Insider zu »nd«. Bei rund 92 Prozent liegt die sogenannte Zuverlässigkeit bei der U-Bahn derzeit, bei der Straßenbahn sind es 95 Prozent, beim Bus 98,5 Prozent. Alles auf Basis der teilweise seit Jahren wegen Personal- oder Fahrzeugmangels deutlich zusammengestrichenen Fahrpläne

Der Fahrzeugpark der U-Bahn ist hoffnungslos überaltert. Viele Jahre wollte der Senat der BVG nicht die Mittel für dringend nötige Fahrzeugbeschaffungen zur Verfügung stellen. Erst sorgte eine Klage des unterlegenen Bieters Alstom vor dem Kammergericht für lange Verzögerungen, dann hatte der Hersteller Stadler Rail große Qualitätsprobleme bei der Fertigung der Fahrzeuge. Mit über drei Jahren Verspätung gegenüber dem ursprünglichen Zeitplan wurde schließlich mit großem Pomp Anfang des Jahres der erste Zug für das sogenannte Kleinprofil der Linien U1 bis U4 an die BVG übergeben worden.

Doch bislang hat der geplante Probebetrieb mit Fahrgästen noch nicht begonnen – offenbar hatte Stadler Rail die heutzutage äußerst komplexen Anforderungen an die Software unterschätzt. Weil diese von den Bremsen über die Antriebe bis zu den Türen alles steuert, können die Fahrzeuge nicht fahren, solange die Programme nicht fehlerfrei funktionieren.

Immerhin kann Stadler Rail nun einen Durchbruch feiern. Die neue Softwareversion scheint zu funktionieren, wie sie soll, heißt es von Insidern. Schon im April wäre der Hersteller in der Lage, aus Pankow die ersten acht Wagen vom Typ JK liefern. Doch das scheitert an organisatorischen Gründen bei der BVG. Stadler wird die Fahrzeuge zunächst anderswo testen und die ersten sechs Wagen der Serienlieferung nach den Sommerferien 2025 auf das Netz der BVG überstellen. 262 Wagen für das Kleinprofil sind bereits fest bestellt, das entspricht fast 33 Zügen mit der dort maximalen Länge von acht Wagen.

Für das Großprofil der Linien U5 bis U9 sind derzeit 114 Wagen vom Typ J fest bestellt, was 19 Zügen der dort maximalen Länge von sechs Fahrzeugen entspricht. Der erste Vier-Wagen-Prototyp dreht inzwischen auf der U5 seine Runden. Da die Fahrzeugtypen für beide Netzteile der Berliner U-Bahn zu über 90 Prozent identisch sind, dürfte sich der Software-Durchbruch im Kleinprofil auch hier bald bemerkbar machen.

Bei der nächsten Aufsichtsratssitzung der BVG im Dezember soll dann auch der zweite Bestellabruf beschlossen werden. Weitere 230 Fahrzeuge für das Großprofil werden dann bestellt – das reicht für etwas mehr als 33 Züge in Maximallänge. Das ist eine gute Nachricht für Stadler Rail. Das Schweizer Unternehmen klagte kürzlich wegen bisher ausbleibender Folgebestellungen in einer Mitteilung über eine »Unterauslastung« seines Werks in Berlin-Pankow. Über 100 bereits produzierte Wagen der ersten Charge stehen dort bereits auf Halde.

Damit wäre die mit Stadler vertraglich fixierte Mindestmenge von 606 Wagen erreicht. Doch angesichts der Sparmaßnahmen ziert sich die Verkehrsverwaltung derzeit, eine klare Aussage zu treffen, ob die im Verkehrsvertrag zwischen BVG und Senat fixierte Mindestmenge von 1018 neuen Fahrzeugen auch tatsächlich kommt. Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) propagiert als Lösung, alte U-Bahnwagen lieber noch einmal aufzuarbeiten.

Christian Linow vom Berliner Fahrgastverband IGEB hält das für ein riskantes Manöver. »Wir erleben derzeit schon, wie es ausgeht, wenn man versucht, längst totgerittene Gäule noch weiter zu reiten«, sagt er »nd«. Der Zustand von bis zu 40 Jahre alten Fahrzeugen könne sich auch nach einer Aufarbeitung recht rapide so verschlechtern, dass sie nicht mehr einsatzfähig sind. »Weitere Ausfälle wären die Folge, weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich rechtzeitig mit Nachbestellungen die Lücke füllen ließe«, so Linow.

Die BVG kämpft nicht nur mit fehlenden Zügen, sondern auch mit Personalmangel in fast allen Bereichen, an der Basis, aber auch auf Leitungsebene. Der bei den Beschäftigten sehr beliebte Betriebsvorstand Rolf Erfurt hat Mitte Oktober nach etwas über fünf Jahren hingeschmissen. Nun hat mit Nicole Grummini auch die Leiterin des U-Bahn-Bereichs mit sofortiger Wirkung gekündigt. Bei beiden soll es nicht sonderlich gut mit BVG-Chef Henrik Falk harmoniert haben, der seit Jahresanfang auf dem Posten sitzt. Verkehrssenatorin Bonde hält große Stücke auf Falk.

Offen sind auch die Leitungsposten für Einkauf, für Infrastruktur und den Fahrbetrieb beim Bus. Das liegt auch an Verfahren für Stellenbesetzungen, bei denen so viele mitreden wollen, dass es auch mal ein Jahr dauern kann, bis es zu den ersten Vorstellungsgesprächen kommt.

»Wenn wenig Geld zur Verfügung steht, kann man nicht an utopischen Projekten wie der U7 zum Flughafen BER festhalten.«

Christian Linow Fahrgastverband IGEB

Auf die Stimmung bei den Beschäftigten schlagen auch die Haushaltskürzungen. Laut internen Planungen sollen bis mindestens 2029 die Verkehrsleistungen nicht wachsen, sondern auf dem derzeitigen Niveau bleiben. Öffentlich erklärt die BVG, dass das Konzept »Stabilität vor Wachstum« bis 2027 gelte. Wie es dann weitergeht, sei »Teil der aktuellen Diskussionen rund um die turnusmäßig anstehende Verkehrsvertragsrevision«.

50 von rund 255 Millionen Euro sollen der BVG 2025 für die Instandhaltung der Infrastruktur gestrichen werden. »Es ist fatal, dass die BVG es seit Jahren nicht schafft, das nötige Bauvolumen umzusetzen. Als Fahrgast sieht man es an den unglaublich langen Umsetzungszeiträumen bei der Sanierung von U-Bahnhöfen«, sagt Fahrgastvertreter Linow.

Das liegt nicht nur am internen und externen Personalmangel, der sich von Planung bis Bauausführung zieht, sondern auch an mangelnder Kooperation und schlechten Prozessen bei Bezirken, der Technischen Aufsichtsbehörde und der Verkehrsbehörde der Senatsmobilitätsverwaltung.

»Es passt nicht zusammen, wenn CDU-Finanzsenator Stefan Evers einerseits ankündigt, dass Berlin eine Haushaltsnotlage droht, andererseits aber milliardenschwere U-Bahn-Planungen weitergeführt werden, als wäre nichts«, sagt Linow.

»Egal, wie man zum U-Bahn-Ausbau steht: Wenn wenig Geld zur Verfügung steht, kann man nicht an utopischen Projekten wie der U7 zum Flughafen BER festhalten«, so Linow weiter. Man müsse sich auf die finanzierbaren und schnell umzusetzenden Projekte konzentrieren. »Und das sind eben Tramstrecken wie jene durch die Leipziger Straße oder von Johannisthal in die Gropiusstadt.«

Immer düsterer werden auch die Perspektiven der Berliner S-Bahn. Erneut ist der Termin für die Abgabe der verbindlichen Angebote für den künftigen Betrieb von zwei Dritteln des S-Bahn-Netzes verschoben worden. »Unter Ansehung der bevorstehenden Änderungen in der politischen Ressortverantwortung im Land Brandenburg haben sich die Auftraggeber entschieden, die Angebotsfrist auf den 20. Februar 2025 zu verlängern«, sagt Petra Nelken, Sprecherin der Senatsmobilitätsverwaltung, auf Anfrage von »nd«. Es ist die sechste Verschiebung. Erster geplanter Termin war der 28. März 2024, zuletzt hätte es am 2. Dezember 2024 so weit sein sollen.

Die Verschiebungen hängen auch mit Heilungsversuchen der Senatsverwaltung im hochkomplexen Vergabeverfahren zusammen. Alstom hatte auch hier ein Verfahren vor dem Kammergericht angestrengt.

Nach wie vor ist offen, ob die Vergabe am Ende rechtssicher durchgeführt werden kann. Doch auch hier läuft die Zeit davon. Teile des alternden Fuhrparks haben eine sehr unsichere Perspektive für den Weiterbetrieb über das Ende der 20er Jahre hinaus. Dann drohen auch bei der S-Bahn Angebotsreduzierungen wegen fehlender Fahrzeuge. Immerhin: Im Gegensatz zur BVG hat die S-Bahn dank großer Anstrengungen keine extreme Personalnot.

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