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Taiwans Industrie-Schandfleck
Die Produkte sind hochmodern, die Arbeitsrechte nicht: In der Chipfertigung werden Migranten systematisch ausgebeutet
Fragt man Kim Beltrán nach seinem arbeitsamen Leben in Taiwan, spricht er zuerst vom Wohnheim, das ihm zugewiesen wurde: »Ich muss mir hier einen Raum mit zwölf Personen teilen, die aber in unterschiedlichen Schichten arbeiten!«, sagt der 30-Jährige mit aufgebrachter Stimme. »Für uns alle gibt es nur zwei Toiletten. Der Raum ist auch viel zu klein für zwölf Leute, wir haben Hochbetten.« Ärgerlich sei das, denn die Vermittler hätten Kim Beltrán und seinen Kollegen jeweils Einzelzimmer versprochen.
Wenn es bloß nur das wäre, so fern von der Heimat. Kim Beltrán ist Filipino, lebt aber seit sieben Jahren in Taiwan, wo er am Rande der Hauptstadt Taipeh im Halbleitersektor arbeitet. Seinen echten Namen möchte er aus Angst, seinen Job zu verlieren, nicht verraten. Nur unter dieser Bedingung erzählt er davon, wie es Angestellten wie ihm in der für die Weltwirtschaft systemisch wichtigen Branche ergeht. Bei ASE, einem führenden Betrieb im Testen von Sensoren für Elektroprodukte, werde er ausgebeutet, sagt Beltrán.
An einem Abend unter der Woche beklagt sich Kim Beltrán, kurze Haare und weite Klamotten, in einem lärmigen Café über das Leben in Taiwan. »Unsere Produkte sind für Smartphones und den Automobilsektor. Unter anderem VW und Audi nutzen sie«, berichtet der Mann, der in der Fabrik, wo er täglich zwölf Stunden verbringt, für das Be- und Entladen der Maschinen mit Metallmagazinen verantwortlich ist. »Viele von uns müssen schwere Lasten heben. Pausen und Ruhezeiten gibt es aber kaum.«
Der physisch anstrengende Job ist eine typische Aufgabe für Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Taiwan. Rund 750 000 Menschen aus Südostasien arbeiten auf der 23-Millioneninsel. Auf der Basis bilateraler Verträge kommen sie aus den Philippinen, Vietnam, Indonesien und Thailand. Weil sie im Industriestaat Taiwan bis zu 30 Prozent mehr verdienen als in der Heimat, schicken sie einen Großteil ihres Lohns zu ihren Familien. Trotz oft schlechter Arbeitsbedingungen hängen die Ausländer daher an ihren Jobs.
Doch wenn Kim Beltrán ehrlich ist, hat er schon daran gedacht hinzuschmeißen. »Einige von uns haben sich über die miesen Wohnbedingungen beschwert«, erzählt er. »Wenn sie sich dann etwas Eigenes suchen, wird ihnen die Miete für das Zwölfbettzimmer aber trotzdem noch vom Lohn abgezogen. Und das sind monatlich 4000 Taiwan-Dollar!« Dies entspricht rund 15 Prozent des Grundgehalts ausländischer Industriearbeiter in Höhe von monatlich etwa 790 Euro. »Selbst bei Krankheit wird uns noch Lohn abgezogen.«
Solche Äußerungen verblüffen. Denn in Taiwans Halbleiterindustrie steckt viel Geld. Wie abhängig die Weltwirtschaft von der Branche ist, zeigte sich in der Corona-Pandemie, als es zu großen Lieferkettenproblemen kam. Mehr als die Hälfte der global produzierten Mikrochips kommt aus Taiwan. Bei den anspruchsvollsten Halbleitern sind es gar um die 90 Prozent Weltmarktanteil. Zugleich mangelt es Taiwans Wirtschaft akut an Arbeitskräften. Gerade die Chip-Industrie braucht Migranten wie Beltrán dringend.
Dennoch würden die Menschen aus dem Ausland oft wie Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse behandelt, sagt Marcin Jerzewski, vom Thinktank Taiwan NextGen Foundation in Taipeh: »Was Arbeitsmigration angeht, ist das System sehr streng. Diese Menschen unterstehen nicht denselben arbeitsrechtlichen Regeln wie Taiwaner.« Je nach Sektor liegt der Mindestlohn für ausländische Arbeitskräfte niedriger als jener für Taiwaner. »Auch einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu erhalten, ist sehr schwierig.« Menschenrechtliche Standards würden in Taiwan eigentlich eingehalten, so Jerzewski. »Aber die Behandlung von Arbeitsmigranten ist einer der größten Schandflecke hier.«
Bei der Regierung sieht man das anders. »Die Behauptung, Taiwan nutze ausländische Arbeitskräfte aus, ist nicht richtig und basiert auf Unkenntnis«, heißt es auf Anfrage beim Arbeitsministerium. Die Rechte der Arbeiter würden gewahrt: »Es gibt 24 Stunden gratis zweisprachige Beratung, die Beschwerdefälle von Arbeitsmigranten unmittelbar an die lokale Aufsicht weiterleitet.« Außerdem kümmere sich eine Schlichtungsstelle um Arbeitsrechtsverletzungen, persönlichen Missbrauch oder Menschenhandel.
Lennon Ying-Da Wang bringen solche Darstellungen auf die Palme. Der Gewerkschafter beschreibt das System, mit dem Arbeitsmigranten in Taiwan behandelt werden, mit drastischen Worten: »Das ist Rassismus, Faschismus, Apartheid. Es gibt andere Gesetze für Ausländer. Die Ausländer haben nicht einmal Zugang zu Pensionen, obwohl sie ins System einzahlen.« Die Grundrente, auf die nach 15 Jahren Anspruch besteht, erhielten Migranten nicht, weil sie vorher wieder das Land verlassen hätten.
Wang arbeitet für die NGO »Serve the People«, die sich für Arbeitsmigranten einsetzt. Am Rande eines Kongresses in Taipeh über Arbeitsrechte berichtet er von Fällen, die typisch seien im ostasiatischen Land. »Viele Arbeitgeber nehmen den Arbeitern die Pässe weg. Andere werden körperlich misshandelt. Oder sie müssen einfach die gefährlichsten Jobs erledigen. Die gesamte Gesellschaft ist feindlich gegenüber Arbeitsmigranten.« Auch die behördlichen Schlichtungsmechanismen führten kaum zu Lösungen.
Dabei fällt unter den großen asiatischen Industriestaaten nicht nur Taiwan mit einer restriktiven Politik gegenüber denjenigen auf, die man ökonomisch so dringend braucht. Yu-Chin Tseng, Politikprofessorin an der Universität Tübingen und Expertin für Arbeitsmigration, vergleicht Taiwan, Japan und Südkorea: »Der Hintergrund dieser drei Länder ist ähnlich«, sagt Tseng. »Sie stehen in einer Art Wettbewerb zueinander, sie alle suchen nach günstigen Arbeitskräften aus derselben Region.«
Taiwan begann, sich 1989 für Arbeitsmigration zu öffnen, warb ab 1992 Arbeitskräfte an. Japan hat in dieser Zeit ein Trainee-Programm eingeführt, bei dem gut ausgebildete Arbeitskräfte für einfache Tätigkeiten eingesetzt wurden. »Südkorea greift dagegen vor allem auf koreanischstämmige Chinesen zurück. Diese Menschen gelten zwar als Koreaner, aber nicht als ›echte Koreaner.‹ Das merkt man auch daran, dass sie in geringqualifizierten Tätigkeiten aktiv sind«, so Tseng. Für Arbeitsmigranten gilt in diesen drei Ländern, dass sie in Jobs mit den drei D arbeiten: dirty, dangerous, difficult – schmutzig, gefährlich und körperlich anspruchsvoll.
»Was Arbeitsmigration angeht, ist das System sehr streng. Diese Menschen unterstehen nicht denselben arbeitsrechtlichen Regeln wie Taiwaner.«
Marcin Jerzewski Thinktank Taiwan NextGen Foundation
Professorin Yu-Chin Tseng sagt: »Die Politik stützt sich auf Ausbeutung. Und generell haben die Menschen in diesen Ländern auch nicht sehr positive Vorstellungen von Arbeitsmigranten.« Tseng spricht von einer Mischung aus Rassismus und Klassismus. »Klassismus bedeutet hier, dass der Blick auf eine Person davon abhängt, welcher Klasse sie angehört. Menschen aus unteren Klassen werden dann diskriminiert. Und die kommen hier nun mal aus Südostasien.«
Veränderungen gebe es nur in sehr kleinen Schritten, beobachtet Tseng. Zur vollen rechtlichen und sozialen Anerkennung als Mitglied der Gesellschaft gilt hier bis heute die ethnische Herkunft als entscheidend. Nach wie vor haben Taiwan, Südkorea und Japan keine umfassenden Anti-Diskriminierungsgesetze, wie sie in den USA oder in den Ländern der Europäische Union gelten, was direkte Folgen für die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte hat.
Denn als einige der wohlhabendsten Volkswirtschaften Asiens gehören Taiwan, Südkorea und Japan zu den wichtigsten Zielen für Arbeitsmigration auf dem Kontinent. In Südkorea arbeitet der Großteil der zwei Millionen migrantischen Arbeitskräfte in der Fertigungsindustrie. In Japan, wo die Zahl auf derzeit drei Millionen angestiegen ist, kommen vor allem der Bausektor hinzu sowie der Einzelhandel und die Hotellerie.
In Taiwan, das kürzlich einen neuen Gastarbeitervertrag mit Indien abschloss, arbeitet mehr als die Hälfte in der Fertigungsindustrie. Hinzu kommen Pflegekräfte, Fischer und Haushaltshilfen. »Im Elektronik- und Halbleitersektor arbeiten vor allem Filipinos und Vietnamesen«, zählt Lennon Ying-Da Wang auf. »Die Unternehmen wollen am liebsten Filipinos, weil sie gut Englisch sprechen und die beste Ausbildung haben. Einige haben sogar einen Universitätsabschluss und oft noch Erfahrung als Schweißer.«
Auch Kim Beltrán hat in seiner Heimat als Schweißer gearbeitet. Wurde er deshalb umworben? Im Café lacht er, schüttelt den Kopf. »Ich musste einen Kredit aufnehmen, damit die ich die Provision für den Jobvermittler bezahlen konnte.« Rund 1200 Euro waren das. Offiziell hat Beltrán dann auch darauf verzichtet, sich gewerkschaftlich zu betätigen. »Wir dürfen uns unter Arbeitern nicht organisieren. Das steht im Vertrag mit dem Vermittler.« Ein Vertrag laufe drei Jahre. Wer aufmüpfig wird, dessen Vertrag werde nicht verlängert.
Arbeitsmigranten aus den Philippinen berichten, dass sie auf Orientierungsseminaren in ihrer Heimat auch von Vertretern der Regierung darauf hingewiesen wurden, es sei verboten, Kolleginnen zu einem Streik anzustiften. Fotos dokumentieren dies. Das zuständige philippinische Ministerium hat eine Interviewanfrage hierzu abgelehnt. Dabei würde so ein Verbot nicht nur mehrere Menschenrechte verletzen wie etwa jenes auf die Organisation von Interessenvertretung oder die Freiheit von Diskriminierung. Es widerspricht auch dem Lieferkettengesetz, das seit 2023 die Verantwortungen in globalen Lieferketten regelt. Dies verpflichtet in Deutschland ansässige Betriebe mit mindestens 1000 Mitarbeitenden, alle Ebenen ihrer Lieferketten zu überwachen. Sie müssen dafür Sorge tragen, dass weder Kinder- noch Zwangsarbeit möglich ist, Arbeitnehmerinnenrechte gelten, die Umwelt weitgehend geschützt wird. Kim Beltráns Arbeitgeber ASE, der Zulieferer in der Chip-Industrie, hat auf eine Anfrage nicht reagiert.
Ein Sprecher des Autobauers Audi dagegen schrieb auf Anfrage im Juli 2024 über die Arbeitsbedingungen bei ASE: »Wir nehmen Hinweise wie diesen ernst und gehen ihnen nach. Aus diesem Grund haben wir das Audi-Aufklärungs-Office unverzüglich nach Ihrer Anfrage informiert und eine umfassende Prüfung läuft aktuell.« Bessere sich ein belasteter Zulieferer nicht, könne die Zusammenarbeit gekündigt werden. Auf eine weitere Nachfrage zwei Monate später hieß es, der Prüfvorgang laufe noch.
Auch beim BMW-Konzern, der ASE zu den »mittelbaren Lieferanten« zählt, nehme man die Hinweise ernst, wie es auf Anfrage im Juli hieß. Im Oktober schreibt der Konzern: »Unmittelbar nach Bekanntwerden der Hinweise auf mögliche Verstöße gegen unsere Sozialstandards haben wir unseren direkten Lieferanten, in dessen Lieferkette sich wiederum ASE befindet, informiert.« Man stehe im Austausch mit dem Lieferanten und fordere eine zeitnahe Aufklärung der Vorwürfe gegen ASE. Die dauere aber noch an.
In Taiwan regiert die Demokratische Fortschrittspartei (DPP), die einst aus einer Bürgerrechtsbewegung hervorging. Heute gilt sie als liberal und progressiv. Das Problem der schlechten Behandlung von Arbeitsmigranten habe man verstanden, betont Alysa Wen-li Chiu, die in der Zentrale der DPP in der politischen Programmabteilung arbeitet. Zur Situation der Arbeitsmigranten sagt sie: »Sie werden mal von ihren Arbeitgebern ausgenutzt, oder von ihren Vermittlern. Das können wir nicht vollends kontrollieren.«
Es gebe aber die Diskussion, ob man einen unterschiedlichen Mindestlohn für Arbeitsmigranten noch brauche. »Taiwan versucht, die Latte etwas anzuheben, damit sie immerhin einen akzeptablen Lohn erhalten. Ich glaube, wir müssen daran denken, dass wir auch die Arbeitsrechte schützen und nicht zu geringe Löhne haben.« Tatsache ist aber: Als Taiwan im Januar 2024 seinen Präsidenten und sein Parlament neu wählte, spielte die Lage der Arbeitsmigranten in den Wahlkampagnen kaum eine Rolle.
Marcin Jerzewski vom Thinktank Taiwan NextGen glaubt, das bestehende System funktioniere für die Volkswirtschaft einfach zu gut, um es zu hinterfragen. »Ich würde sagen, den Unternehmen in Taiwan gefällt die aktuelle Ordnung. Sie brauchen billige Arbeitskräfte, die sich nach einer Zeit austauschen lassen. Da geht es auch um die bloße Gier der Unternehmen in Taiwan.« Politischen Willen, dies zu ändern, gebe es kaum. »Aber Taiwan muss hier definitiv eine Unterhaltung mit sich selbst führen.«
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