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- Islamisten auf dem Vormarsch
In Syrien droht die Neuauflage einer Katastrophe
Christopher Wimmer analysiert das Vorrücken der Islamisten in einem vom Krieg gezeichneten Land
Der Krieg in Syrien war nie verschwunden, doch die Intensität der Kämpfe der vergangenen Tage hat selbst Experten überrascht. Islamisten haben in einer Großoffensive die Metropole Aleppo bereits fast vollständig eingenommen. Die Armee des Diktators Baschar al-Assad zog sich fluchtartig und nahezu ohne jede Gegenwehr zurück. Lediglich die von den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) können sich bislang noch in zwei kurdischen Stadtteilen halten.
Nun bereiten die Kämpfer der Haiat Tahrir al-Scham (HTS) ihren Vormarsch in Richtung Syriens viertgrößter Stadt Hama vor. Quellen vor Ort melden, dass einige Stadtteile bereits beschossen werden. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte verkündete am Dienstagabend, dass die HTS-Kämpfer »nun vor den Toren der Stadt« stünden.
Zum Thema: »Teil eines türkischen Plans« – Hesen Koçer, von der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, über den Vormarsch der islamistischen Milizen
Dabei war in den vergangenen Tagen viel von »Befreiung«, »Rebellen« oder der »syrischen Opposition« die Rede. Doch bei HTS handelt es sich um einen Zusammenschluss extremistischer Milizen, der aus den Terrornetzwerken Al-Qaida und al-Nusra hervorgegangen ist. Unterstützt wird er bei seinem Vormarsch von weiteren islamistischen Milizen, die wie kriminelle Banden agieren und wiederum von der Türkei protegiert werden. Im türkisch besetzten syrisch-kurdischen Kanton Afrin entführen, plündern und verhaften sie willkürlich Menschen. Die »Rebellen« im Nordwesten Syriens sind also allesamt Islamisten.
Christopher Wimmer ist Soziologe und Autor. 2022 lebte er für mehrere Monate in Nord- und Ostsyrien.
Die Aussichten für ethnische Minderheiten, Frauen oder politische Oppositionelle sind daher alles andere als rosig. Zahlreiche christliche oder kurdische Menschen fliehen aus den besetzten Gebieten. In Aleppo selbst wurden bereits Weihnachtsbäume in christlichen Vierteln von Islamisten zerstört, Frauen wurden verhaftet – es droht eine Neuauflage des »Islamischen Staates« in Syrien.
Besonders prekär ist die Lage in Aleppo und in der Region Shehba nördlich der Stadt. Die kurdischen Viertel in Aleppo verteidigen sich weiterhin und bieten auch Christen Schutz, die vor den HTS-Kämpfern aus anderen Vierteln geflohen sind. Doch ist die Versorgungslage mittlerweile äußerst schwierig, da das Gebiet umzingelt ist. Vom HTS-Führer Abu Mohammad al-Jolani, der die Islamisten nach Aleppo führte, gibt es widersprüchliche Signale: Einerseits verspricht er der kurdischen Bevölkerung Sicherheit, fordert aber andererseits auch den Rückzug der kurdischen Truppen.
Eindeutig ist die Situation jedoch für die Menschen in der Region Shehba. Dort harren seit der türkischen Besatzung 2018 ohnehin bereits rund 100 000 Geflüchtete aus Afrin aus, die nun erneut fliehen müssen. Unter dem Schutz der SDF machen sich die Menschen in langen Fahrzeugkolonnen auf, um in die (noch) sicheren Gebiete um die Städte Raqqa und Manbij zu entkommen. Dort besteht die »Autonome Selbstverwaltung«, die auch unter dem Namen Rojava bekannt ist. Die Selbstverwaltung hat bereits um internationale Hilfe zur Versorgung der Vertriebenen aufgerufen.
Die Leidtragenden der erneuten Eskalation in Syrien sind also vor allem die Minderheiten: christliche, jesidische und kurdische Menschen. Die syrische Katastrophe des vergangenen Jahrzehnts droht sich zu wiederholen.
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