Wir wollen, was uns will und wollen sein, wie man uns will

Über Ästhetik und Geschmack, Reproduktion und Reflexion im Zeichen des Marktes

  • Franz Schandl
  • Lesedauer: 5 Min.
Eines von ihnen hat den kapitalen Killerinstinkt.
Eines von ihnen hat den kapitalen Killerinstinkt.

Aber liegt das alles nicht doch in der Natur der Sache? Ein Standardeinwand des gesunden Menschenverstandes ist etwa der, dass sich die Menschen immer schön, also schöner machen wollen. Abgesehen davon, dass Schönheit keine unveränderbare oder objektive Größe darstellt, was sagt das aus? Es ist doch ein fundamentaler Unterschied, ob sich eins für sich oder andere schön macht oder ob der Markt zum vorherrschenden Schönheitsideal (diätisiert, auffrisiert, kostümiert, krawattisiert, erotisiert) verpflichtet.

Eine Person, die sich für ein Bewerbungsgespräch herrichtet, zieht das an und trägt das auf, wovon sie erwartet, dass es beim Gegenüber ankommt, kurzum verkaufbar ist. Solche Auftritte sind keine individuellen Angelegenheiten, sondern regulierte und uniformierte. Wenn eine Frau in das Kostüm steigt oder der Mann in den Anzug, dann kann das zwar vielerlei bedeuten, oft bedeutet es allerdings, einer bestimmten Normierung zu entsprechen, nämlich einer marktgerechten, die sich als stil- und artgerechte Konvention einer marktförmigen Spezies aufdrängt.

Kapitales Werben

Werfen wir etwa einen flüchtigen Blick in eine Broschüre der Wiener Wifi (Wirtschaftsförderungsinstitut der Wiener Wirtschaftskammer): »Die perfekte Bewerbung. So heben Sie sich ab.« Rekapitulieren wir: Gelingt die perfekte Bewerbung allen, ist nichts gewonnen, es ist also notwendig, dass sie einigen gelingt und vielen misslingt. Um bestehen zu können, müssen andere überrundet oder weggedrängt, kurzum ausgestochen werden: »Stechen Sie aus der Masse heraus!« heißt es daher auf Seite 3. Wer herausstechen will, muss andere ausstechen können. Dies ist nichts weiter als ein grober Appell an den kapitalen Killerinstinkt, der gemeinhin als gesunde Konkurrenz verschrien ist: Er oder ich? Sie oder ich? Der Zwang ist nicht erhebend, sondern standardisierend und letztlich nivellierend. Das Abgefeimte ist, dass die Normierung gerade deswegen gelingt, weil man den Leuten einredet, sich müssten sich vom Durchschnitt abheben.

Die Ästhetisierung des Selbst ist zwar nicht identisch mit den ästhetischen Normen, die da heute vorgegeben und eingefordert werden, aber doch sind sie weitgehend synchronisiert. Da gilt es die adäquaten Signale in der jeweiligen Performance zu setzen. Nicht, dass »Ich will« und »Ich muss« immer strikt getrennt werden könnten, aber den Anspruch gilt es schon zu stellen, gerade hier Unterschiede aufzumachen und auch aufzuzeigen. Selbst wenn Subjekt und Individuum dezidiert nicht eins sind, so hausen sie doch in einem Körper, gehören derselben Person an.

Um bestehen zu können, müssen andere überrundet oder weggedrängt, kurzum ausgestochen werden.

Identität ist zugegen und wiederum auch nicht. Diese Widersprüche in einem selbst werden gespürt, aber sie können selten beschrieben, geschweige denn begriffen werden. Die Suche nach einem selbst gleicht so einem Spießrutenlauf. Da ist einerseits schwer etwas zu finden, andererseits ist gerade das fragende Suchen ein besonderer Akt gegen die Hinnahme des Soseins, d.h. der gesellschaftlichen Zwänge unter denen wir alle stehen. Nicht, dass in solchen Momenten das Ich zu sich kommt, soll behauptet werden, aber es fühlt sich doch in seine Möglichkeiten versetzt. Zumindest ansatzweise.

Kapitales Sehen

Natürlich betrachten wir Personen durch die Augen des Marktes. Der optische Eindruck ist der erste, schnellste und eingängigste. Er ist nicht nur flüchtig. Der, die oder das Andere erweist uns durch unseren Blick die erste Auffälligkeit. Der Sehsinn ist vielleicht nicht äußerst sensibel, aber er hat sich zu der berechnenden Kulturtechnik hochentwickelt, was Zuordnungen betrifft. Sinnliche Eindrücke sind jedenfalls keine unmittelbaren Gewissheiten, sondern auch, ja primär marktvermittelte Beeindruckungen. Der Markt prägt Sicht- und Hörweisen, er sitzt im Geschmack wie im Gespür, die er konfiguriert hat. Wir sind weitgehend sein Produkt.

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Zwar ist es in den Zentren vielfach gelungen, den industriellen Ausstoß immens zu erhöhen und den Verkauf der Produkte durch Kaufkraft zu sichern, aber dies geschieht auch durch Zurückdrängung der Güte. Serienprodukte mindern die Qualität. Durch die Quantifizierung der Welt haben die Qualitäten vielfach zu leiden. Das Kapital betreibt ein umfassendes Geschmacksabwicklungsprogramm. Der Mangel an gutem Geschmack manifestiert sich in allen Bereichen, die mit dem Massenkonsum einhergehen. Gutes Essen von schlechtem, gute Lektüre von schlechter, gute Musik von schlechter zu unterscheiden, damit sind nicht viele gesegnet, die meisten sind heillos überfordert. Das alles ist ohne Reflexion und Kritik, aber auch ohne Einübung und Pflege weder erzielbar noch erhaltbar, geschweige ausbaubar. Es scheitert oft weniger am Willen, als an der vorbesetzten Zeit, die hauptsächlich vom Alltag, seinen diversen Erledigungen und Geschäften beschlagnahmt ist.

Kapitales Wollen

Das mit dem Willen ist überhaupt nicht so einfach wie der freie Wille von sich behauptet. Was wir wirklich wollen, vermögen wir in dieser beschriebenen Matrix gar nicht zu erkennen, da der Aufwand, es überhaupt festzustellen, einfach nicht gegeben ist. So wollen wir eben, was uns will. Darin liegt auch ein Grundproblem der Emanzipation. Wer Scheiße in sich reinfrisst und das weder schmeckt, spürt noch gar erkennt, wie soll der oder die überhaupt ein anderes Menü denken und es fordern und fördern können?

Das Gegebene wird nicht nur hingenommen. Es hat den immensen Vorteil, einfach da zu sein. So ist es überlegen. Der Vorsprung gemeiner Reproduktion gegenüber kritischer Reflexion liegt auf der Hand: Erstere ist eine Bedingung der Existenz, letztere nicht oder besser: bloß eine (nicht: die) eines gelingenden Lebens. Ohne erstere geht nichts, ohne letztere vieles. Für Überleben und Anpassung reichen Erfahrung und Routine, kurzum Know-how. Durch unseren alltäglichen Vollzug betätigen wir die gesellschaftliche Maschinerie unablässig. Wir müssen nicht einmal dafür sein, solange wir alles dafür tun. Wir sind die Junkies des Kommerzes. Wir treiben, was uns antreibt. Nur wozu und wohin?

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