- Kultur
- Rettung der Welt
Der Hass ist auserzählt
Vielleicht die Rettung in unübersichtlicher Zeit: Lesen und immer wieder lesen
Die Welt als Schnipsel, als Masse an Clips und Posts. So lautet das Versprechen der sozialen Netzwerke. Warum also seine Lebenszeit mit dem Studium epischer Theorien zubringen, wenn Tiktok die Komplexität knackig komprimiert? Fakt ist: Die einzelne, gezielte Information mag man eventuell mithilfe von Suchinformationen und Hashtags erhalten, aber das Große und Ganze lässt sich für viele immer schwerer erfassen. Vor allem, weil wir das Erzählen verlernt haben.
Aus Wörtern und Sätzen fügen sich für den Homo digitalis keine Zusammenhänge mehr. Statt mit aufeinander aufbauenden Wissensarchitekturen sind wir mit einem Nebeneinander von Bausteinen konfrontiert, weswegen der Medientheoretiker Byung-Chul Han auch von einer »Entnarrativierung der Welt« spricht. Was dabei allzu paradox anmutet, stellt er in seinem Essay »Im Schwarm. Ansichten des Digitalen« heraus: »Es gibt eine Flut von Veröffentlichungen, aber einen geistigen Stillstand. Die Ursache ist eine Krise der Kommunikation. Die neuen Kommunikationsmittel sind bewundernswert, aber sie verursachen einen ungeheuren Lärm.« Auf der einen Seite wächst der Berg an neuesten, nur mit hohem Zeitaufwand zu erfassenden Forschungsstudien, beispielsweise zu Gesundheits- und Umweltfragen, auf der anderen befindet sich ein großer Teil der Gesellschaft in dataistischer Schnappatmung. In der Epoche der Hyperbeschleunigung konsumieren zahlreiche Menschen nur noch Fetzen und Zitathäppchen, die aus Kontexten gerissen wurden.
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Das ergibt zwei Geschwindigkeiten im Internet, was sich insbesondere politischen Agitator*innen zunutze machen. Sie profitieren von der Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer, da sie auf Überzeugungsarbeit verzichten können. Für ihre Zwecke bedarf es keiner ausgefeilten Erzählung nach dem Ursache-Wirkung-Schema. Sie wollen vielmehr Fronten schaffen. Die binäre Opposition, die Fremde und Andersdenke zu Feinden erklärt, ersetzt die Grautöne und Schattierungen. Dieses sehr einfache Modell basiert vornehmlich auf Hass. Jedwede Kohärenz und Ausgewogenheit unterlaufend, findet es seinen Nährboden in Details, auf die der gesamte Fokus gerichtet wird. Es gibt dann immer nur eine Nationalität, ein Geschlecht, einen religiösen Hintergrund und so weiter. Die Agitator*in blendet – bezogen etwa auf bestimmte Personen und Gruppen – den Rest einer Biografie aus, wirft die Darstellung einer Vergangenheit und Entwicklung zugunsten eines Blicks auf die reine, lediglich zum Ausschnitt verkommene Gegenwart über Bord.
Aber: Geschichten können helfen, die Hetze und die damit verbundene allgemeine Vereinfachung der Dinge zu überwinden. Darauf hat beispielsweise der 2005 verstorbene Philosoph Paul Ricœur hingewiesen. Er vergleicht die Herstellung der persönlichen Identität mit einer Narration. So wie ein Text konstruiert wird, wie Erfahrungen und Ideen einer Autorin oder eines Autors darin einfließen, so gibt sich jeder Mensch einen eigenen Werdegang. Ricœur schließt dabei die Interaktion mit anderen ein. Isolation und Abschottung haben schon in der Grundanlage dieses Gedankengebäudes keinen Platz. Vielmehr geht es permanent um Begegnung. Wir bewegen uns also in einem mehrstimmigen Raum, der weit und offen ist – im Unterschied zu der oft beschriebenen Echokammer der Filterblase im Netz, die klein und abgeschlossen anmutet und in der man letztlich nur den Widerhall der eigenen Worte vernimmt.
Erzählen könnte uns also hinausführen aus den engen Korridoren. Dass wir allerdings in Teilen die Kompetenz dafür, für »Wie«, verloren haben, zeigt sich darin, was wir uns erzählen. So kritisiert etwa der Literaturwissenschaftler Martin Puchner, dass wir unsere Rettungsnarrative in den zurückliegenden Dekaden insbesondere an Superhelden geknüpft haben. Ob Batman, Captain America oder Wonderwoman – sie alle zeichnet ihr singulärer Kampf aus. Einer oder eine gegen alle. Da die heutigen Krisen jedoch zumeist globaler Natur sind und ganze Völker und Kontinente betreffen, dienen diese Einzelkämpfer mit den Superkräften kaum zur richtigen Orientierung. Zum einen vermitteln sie den falschen Eindruck, ein omnipotentes Individuum könnte uns zur Erlösung verhelfen, zum anderen scheint die Versuchung groß, die eigene Pflicht zum Handeln abzugeben. Puchner fragt daher verstärkt nach Storys, die Gemeinschaften als Agenten und Adressaten gleichermaßen haben. Bücher wie das zuletzt erschienene »Wir kommen. Kollektivroman« (Dumont 2024), in dem Autorinnen wie Olga Grjasnowa, Sirka Elspaß und Ulrike Draesner zusammenarbeiten, haben also durchaus einen Vorbildcharakter. Weniger allein aufgrund des Inhalts an sich als vielmehr durch das Bekenntnis, gemeinsam einen schöpferischen Kosmos zu kreieren.
Eine ganze Gesellschaft kann die Kulturtechnik des Erzählens vor allem durch zwei Mittel wiedererlernen: Erstens durch Idole, die politische Visionen entwickeln, erklären und die Menschen dafür gewinnen, und zweitens mittels Lesen. Lesen und immer wieder lesen. Lesen außerhalb der Zeitnot, und lesen gegen die Zeitnot. Dass die jüngeren Ergebnisse der Pisa-Studie einen stetigen Abfall der Lesekompetenz diagnostizieren, ist das markante Attest dafür, dass wir uns mit dem Verstehen zunehmend schwertun. Viele von uns können sich offenbar nicht mehr intensiv auf ein Gegenüber einlassen. Noch dramatischer fällt dieser Verlust auf der Ebene der Zwischenmenschlichkeit aus. Denn die wohl wichtigste Ressource des friedlichen und gelingenden Zusammenlebens heißt Vertrauen. Und das braucht Zeit, erfordert die Bereitschaft, den anderen wahrnehmen und kennenlernen zu wollen. Man muss ihn lesen wie einen dicken Schmöker, um sein Gewordensein zu erkennen. Dadurch lassen sich bestimmte Verhaltensweisen nachvollziehen. Man wird empathisch und empfänglich.
Auch deswegen sollten wir heute mehr denn je sämtliche Disziplinen und Fächer fördern, die sich – jenseits der dominanten Naturwissenschaften – mit Narrativen beschäftigen. Vom Deutsch- und Ethikunterricht bis zum Philosophiestudium lernen wir das oft chaotische Dasein in einer übergreifenden Ordnung zu erfassen. Sie geht aus einer Vergangenheit hervor und ermöglicht Projektionen in die Zukunft. Nur wer beispielsweise versteht, worauf der Klimawandel gründet, wird dazu in der Lage sein, über die umweltfreundlichen Städte von morgen nachzudenken. Und so könnte sich Glied um Glied wieder eine Kette fügen. Sich hingegen nur mit Bruchstücken abzufinden, würde bedeuten, im ewigen Stillstand zu verharren. Und keine Angst vor Neuem kann so groß sein, dieses Unbehagen ertragen zu wollen.
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