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»delay, deny, depose«: Knochen binden im Selbstversuch
Leo Fischer über Gegenwart und Zukunft profitgetriebener Gesundheitssysteme
Vor wenigen Tagen ist der Chef einer amerikanischen Krankenkasse, United Healthcare, in Manhattan erschossen worden. Der Täter hinterließ Hinweise, wonach der Mord sich unmittelbar auf die Arbeit des CEOs bezog – auf zurückgelassenen Patronen fanden sich die Worte »delay, deny, depose«, Anspielungen auf die häufigsten Strategien der amerikanischen Krankenversicherer, Zahlungen zurückzuhalten. Dem desolaten Zustand des US-Gesundheitssystems folgend, sind die sozialen Medien voll von kaum verhohlener Genugtuung. Viele rechnen den Mord an einem Individuum auf mit den fast 70.000 Toten im Jahr, die in den Staaten auf ungenügende Krankenversicherungen zurückgehen.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft
Die Gesundheitskosten in den USA erreichen unvorstellbare Summen: Im Netz kursieren Rechnungen von 120.000 Dollar für einen Beinbruch oder 80.000 Dollar für eine Schwangerschaft. Trotz Obamas Reformen ist die Krankenversicherung eines der mächtigsten Mittel sozialer Kontrolle: Nur, wer einen Job hat, ist versichert, samt Familie, wer ihn verliert, steht vor dem Nichts. Der Einsatz eines Krankenwagens kann die Lebensersparnisse aufzehren. United Healthcare ist ein abschreckendes Beispiel des profitgetriebenen Gesundheitswesens. Erst vor Kurzem geriet die Firma in die Schlagzeilen über den Tod eines Patienten, dem eine KI die Kosten einer Behandlung verweigert hatte, zu der Ärzt*innen dringend geraten hatten.
Auch in Deutschland gibt es eine ganze Klasse von Lobbyist*innen, die nichts lieber sähen, als das Gesundheitssystem nach amerikanischem Vorbild auseinanderzunehmen. Dabei geht es ganz nach dem neoliberalen Playbook: Die Institution, in diesem Fall das Gesundheitssystem, wird unter Beschuss genommen. Am deutschen Gesundheitssystem gibt es einiges zu kritisieren – doch das meiste geht exakt auf neoliberale Austerität und jahrzehntelang verschleppte Investitionen zurück. Statt Geld ins System zu geben, wurde überall auf »Wirtschaftlichkeit« gesetzt – so als sei das Gesundheitssystem schon ein Unternehmen. Kliniken wurden zusammengelegt, Kassensitze verfielen. Krankenkassen nannten sich Gesundheitskassen und bezahlten lieber Yoga für Gesunde als Behandlungen für Kranke. Alles als Teil der Meistererzählung: Endlich wird es wirtschaftlicher! Die Erträge dieser Wirtschaftlichkeit flossen in Glaspaläste für Krankenkassen und die Taschen von Lobbyist*innen und »Gesundheitsmanager*innen«, die dafür sorgen, dass ein Arbeitsunfall mit gebrochenem Arm sich erst mal eine halbe Stunde bei der Krankenhausverwaltung vorstellen muss, bevor er eine Ärztin zu Gesicht bekommt.
Zur Perfidie der neoliberalen Agenda kommt dazu, dass der geschaffene Zustand der Austerität als Argument gegen die Institution gerichtet wird: Der Klinik, die im Sparzwang ihre Kardiologie aufgegeben hat, wird vorgeworfen, keine Vollversorgung mehr anzubieten – um sie im Zweifel ganz zu schließen. Irgendwann werden die Leute sich die Knochen wieder selbst binden, weil sie nicht der Wirtschaftlichkeit börsennotierter Klinikkonzerne im Weg stehen wollen.
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