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  • Berliner Behindertenparlament 2024

Inklusion: Viel Wohlwollen, wenig Konsequenzen

Am Samstag tagte das Berliner Behindertenparlament zum vierten Mal

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 4 Min.
Mitglieder des Berliner Behindertenparlaments in Rollstühlen sitzen im Abgeordnetenhaus Berlin.
Mitglieder des Berliner Behindertenparlaments in Rollstühlen sitzen im Abgeordnetenhaus Berlin.

Es steht nicht zum Besten um die Inklusion in Deutschland. Zuletzt hatte der Bericht des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2023 klargemacht, dass behinderte Menschen eigenständig für ihre Belange einstehen müssen, weil sich die Politik von selbst kaum bewegt. Das Berliner Behindertenparlament ist einer dieser Wege, Belange und Forderungen behinderter Menschen auf direktem Weg an den Senat weiterzugeben. Es existiert seit drei Jahren und geht zurück auf eine Initiative des Aktivisten und »Taz«-Autoren Christian Specht.

Auch in diesem Jahr waren wieder um die hundert Stimmberechtigte im Berliner Abgeordnetenhaus zusammengekommen, um den Senat zu befragen und über Anträge abzustimmen, die dann stellvertretend Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD)überreicht werden sollten.

Dass der Senat nicht zuhört, kann man nicht sagen: die Regierungsbank war prominent besetzt. Unter anderem Finanzsenator Stefan Evers (CDU), Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD), Bausenator Christian Gaebler (SPD), Ina Czyborra (SPD) als Senatorin für Wissenschaft und Pflege sowie Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) waren anwesend, um Rede und Antwort zu stehen.

Zur Einführung sprach Lars Düsterhöft (SPD) als Präsidiumsmitglied des Abgeordnetenhauses. Er zeigte sich einerseits »hocherfreut«, die Versammlung begrüßen zu dürfen, verwies aber auch immer wieder darauf, dass Inklusion ein langer Weg sei, der gerade jetzt, wo das Geld fehle, nur Schritt für Schritt gegangen werden könne. Dieses Mantra wiederholte sich in fast allen Antworten der Senator*innen zu beinahe jedem Thema: Es gehe voran, aber langsam; man wolle auch mehr tun, aber das Geld fehle. Woran es allerdings nicht fehlt, sind gute Absichten: Oft war von Achtsamkeit die Rede, von Sensibilität, von den Wissenslücken in der Bevölkerung und den Behörden. Überhaupt waren sich allesamt im Klaren darüber, dass noch sehr viel zu tun sei.

Aber wie steht es um praktische Konsequenzen von ernstgemeintem Wohlwollen und vorhandenem Bewusstsein? Exemplarisch dafür steht der Antrag auf eine Ausweitung inklusiver Sportangebote. Dieser war schon vergangenes Jahr wortgleich eingereicht worden. Der Antrag von 2023 wurde »abgebügelt«, sagt der Abgeordnete Christian Thome, das sei »alles sehr ernüchternd« gewesen. »Wir wissen noch nicht einmal, ob Frau Senatorin Spranger den Antrag zu Gesicht bekommen hat.« Und das, obwohl im Jahr 2023 die Special Olympics World Games in Berlin stattfanden, es also viel Aufmerksamkeit für das Thema gab. Bewegt hat sich kaum etwas. Das liegt auch daran, dass der Senat bis jetzt in diesem Punkt auf eine Zusammenarbeit mit Betroffenen verzichtet und auch keine nachhaltige Strategie verfolgt, wie Inklusion im Sport funktionieren kann.

»Wir wissen noch nicht einmal, ob Frau Senatorin Spranger den Antrag zu Gesicht bekommen hat.«

Christian Thome
Abgeordneter Behindertenparlament

Ähnlich stellt sich das Problem im Bereich der Mobilität dar: Ursprünglich war das Ziel ausgegeben worden, dass der Berliner Nahverkehr bis 2021 komplett barrierefrei sein soll. Davon kann aber keine Rede sein, und es gibt auch keinen Masterplan, wie das umgesetzt werden könnte: Inklusion ist in sehr vielen Bereichen nach wie vor ein »nice to have«, aber bei Budgetknappheit häufig eine der ersten Anforderungen, die schlicht gekappt werden. Der Abgeordnete Thomas Seerig zeigt sich dahingehend überraschend geduldig: »Wir geben dem Senat jetzt noch einmal zehn Jahre, aber dann muss das auch klappen.«

Selbst wenn es Lösungen gibt, die Fortschritte versprechen, ist ihre Umsetzung bisweilen kontraproduktiv. Beispiel Inklusionstaxis: Taxiunternehmen, die eine Lizenz für den Flughafen BER bekommen wollen, sind verpflichtet, mindestens zwei Inklusionstaxis in der Flotte zu haben. »In der Praxis ist es jetzt so, dass diese Wagen ausschließlich am BER stehen, weil das lukrativer ist, und wir in der Stadt haben davon gar nichts«, sagt Thorsten Gutt, einer der Antragssteller zum Thema.

Nächstes Beispiel Milieuschutz: In bestimmten Gebieten dürfen Wohnungen nicht saniert werden, weil das zu höheren Mieten führt und damit zur Verdrängung der bisherigen Kiezbewohner*innen. Menschen, die auf Umbauten angewiesen sind, weil sie zum Beispiel pflegebedürftig wurden, und zum Beispiel ihr Bad umgestalten müssten, erhalten häufiger keine Genehmigung. Der Milieuschutz führt in solchen Fällen zu genau jener Verdrängung, die er eigentlich verhindern will. Selbst Bausenator Christian Gaebler meinte dazu, diese Praxis sei »absurd«.

Die Hoffnung bleibt, dass die Senator*innen zumindest ein wenig aus der Veranstaltung mitnehmen, auch wenn die Erfahrung zeigt, dass diese Hoffnung auf dünnen Beinen steht. Nach dem ersten Behindertenparlament im Jahr 2022 hatte das Behindertenparlament 17 Anträge beim Senat eingereicht, davon waren nur vier beantwortet worden. Der damalige Staatssekretär für Arbeit und Soziales, Max Landero, formal übrigens auch zuständig für Gleichstellung und Antidiskriminierung, antwortete damals auf Nachfrage: »Eine formale Berichtspflicht des Senats, bzw. der einzelnen Senatsverwaltungen zu den ›Anträgen‹ besteht nicht.«

Einigen Beteiligten des diesjährigen Parlaments war deutlich anzumerken, dass sie nicht mehr gewillt sind, sich ständig vertrösten zu lassen. Papier mag geduldig sein, die Menschen, um die es geht, sind es weniger und weniger.

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