- Kommentare
- Neoliberalismus
Geier kennen keinen Boykott
Christoph Ruf erinnert sich an Zeiten, in denen der Verzicht auf Produkte aus politischen Gründen noch Bedeutung hatte
Früher war mehr Boykott. Jene Biersorte trank man nicht, weil der Firmenchef insgeheim die Rechtsradikalen unterstützt und jene nicht, weil er das ganz offen tat. Auch Tanken war schwierig: Shell ging nicht, weil der Konzern mit der Apartheid in Südafrika verbandelt war. Esso ging aber auch nicht, weil es der Havarie der »Exxon Valdez« eine schlimme Ölpest in der Arktis gab. Und »Müller Milch« ging schon mal gar nicht. Wenn ich mich richtig erinnere schon damals aus ähnlichen Gründen wie der einzige Boykottaufruf, der bei mir aus dem Jahr 2024 haften geblieben ist: Müller-Produkte sollten ignoriert werden, weil der Chef sich so angeregt beim Abendessen mit Alice Weidel unterhalten hatte. Mit Rechtsaußen hat Theo Müller schon früher gerne mal zu Abend gegessen. Ansonsten ist heutzutage in der aktiven Fußball-Fanszene die Red-Bull-Dose verpönt. Die Gründe aufzuzählen, würde hier den Rahmen sprengen. Nur so viel: Jeder einzelne ist gerechtfertigt.
Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass es die Fußball-Ultras sind, die den eigentlich naheliegenden Gedanken am Leben halten, dass man ein Produkt, das man ablehnt, nicht unterstützen muss. Ultras sind von einem starken Kollektivgedanken geprägt, das Wort »Bewegung« kommt ihnen ironiefrei über die Lippen; eine Gesellschaft im Kleinen, in Teilen durchaus als bewusster Gegenentwurf zur großen gelebt.
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.
Die eigentliche Gesellschaft versteht sich allerdings immer weniger als solche, sondern als zufällig angeordnete Ansammlung von Konsumenten. Der Neoliberalismus hat auch da ganze Arbeit geleistet. Als totalitäre Ideologie ging es ihm von vornherein darum, Politik und individuelles Zusammenleben zu durchdringen. Die Erkenntnis, dass das eine nicht ohne das andere geht, hatte er stets dem denkfaulen Teil der politischen Linken voraus. Heute hat er gesiegt, in erschreckendem Maße in Deutschland, das einst stolz auf die soziale Marktwirtschaft war. Und wo man heute als linker Fantast gilt, wenn man Ludwig Erhard zitiert.
Ein Denken, wonach jeder sich selbst der Nächste ist, führt allerdings nicht nur dazu, dass es den Menschen absurd vorkommt, ein Produkt aus politischen Gründen nicht zu kaufen. Sie können sich schlicht und einfach nicht mehr vorstellen, dass sie als Teil eines Ganzen Wirkmächtigkeit entfalten können. Die gleiche Ideologie führt auch zu zwischenmenschlich widerwärtigen Verhaltensweisen. Betrug, nehmen wir einmal den Enkeltrick, wird dann nicht mehr primär als menschlich niederträchtiges Verhalten gesehen. Sondern als besonders raffinierte und daher bewundernswerte Vorgehensweise, um schnell zu viel Geld zu kommen. Das Opfer bekommt den Spott ob seiner Dummheit ab, der Täter gilt als clever.
Dass das dahintersteckende Prinzip – ohne Anstrengung reich werden – als Influencertum Berufswunsch Nummer eins bei Teenagern ist, muss kein Zufall sein. Wie es auch kein Zufall sein muss, dass man noch vor 20 Jahren an manchen Orten ziemlich sicher (und ziemlich verdient) ein paar auf die Fresse gekriegt hätte, wenn man ein Konzert- oder Fußballticket teurer als zum Einkaufspreis, verkauft hätte. Heute ist auch das: völlig normal. Denn der Mensch ist des Menschen Geier.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.