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Haid Haid: »Syrer können wieder von einem freien Land träumen«
Das Assad-Regime ist Geschichte. Ein Syrienexperte erklärt, wie die Diktatur so schnell fallen konnte – und wie es jetzt weitergehen könnte
Syrer*innen im ganzen Land und im Exil feiern den Sturz von Bashar Al-Assad – auch Menschen, von denen viele gedacht hätten, sie unterstützen den Diktator. Warum?
Das Land wurde seit 53 Jahren von derselben Partei, derselben korrupten Familie regiert. Das Regime wurde durch ein unterdrückerisches System aus Geheimdienst, Polizei und Militär aufrechterhalten. Aus Angst, dass Familienmitglieder oder Nachbar*innen Spitzel des Regimes sind, konnte man nicht einmal im Privaten frei sprechen. Nicht über banale politische Fragen und erst recht nicht über die Assad-Familie. Hinzu kommt die Gewalt, die schon Hafiz Al-Assad und danach sein Sohn Bashar Al-Assad gegen die eigene Bevölkerung angewendet haben, um an der Macht zu bleiben. Nach der syrischen Revolution 2011 wurden Hunderttausende durch Assad und seine Unterstützer Russland und Iran getötet, über 100 000 Menschen verschwanden in Foltergefängnissen – ihre Familien wussten oft jahrelang nicht, ob sie überhaupt noch lebten. Auch wenn die Zukunft ungewiss ist, es ist jetzt das erste Mal seit vielen Jahren, dass Syrer*innen wieder von einem anderen, einem freien Syrien träumen können.
Für Menschen, die die Entwicklungen der syrischen Politik im letzten Jahr nicht genau verfolgt haben, kam die Offensive der bewaffneten Oppositionsgruppen Hajat Tahrir Al-Scham (HTS) und der Syrischen Nationalen Armee (SNA) scheinbar aus dem Nichts. Waren Sie überrascht?
Noch vor zwei Wochen hätte sich niemand vorstellen können, dass das Assad-Regime gestürzt werden wird – und dann auch noch so schnell. Dabei war die Offensive aber gar nicht überraschend. Für Menschen, die den Konflikt nicht genau verfolgen, schien es, als wäre alles eingefroren, weil seit dem von der Türkei und Russland vermittelten Waffenstillstand 2020 nicht viel an den Frontlinien passiert war. Doch für die Menschen in dem von Rebellen kontrollierten Gebieten in Nordwest-Syrien war der Konflikt nie beendet. Sie lebten unter fast täglichen Angriffen durch das Regime. Es gab keine politischen Lösungen, die ihnen Hoffnung auf eine bessere Zukunft machten. Viele sahen militärische Mittel als den einzigen Weg, die Realität zu verändern.
Dr. Haid Haid arbeitet als Berater mit Fokus auf Syrien bei dem britischen Thinktank Chathamhouse. Zuvor war er Forschungsstipendiat am International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) am King’s College London. Außerdem arbeitete er als Programmleiter für Syrien und Irak im Nahost-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.
Warum also jetzt?
Innerhalb Syriens haben sich die Oppositionsgruppen über Jahre auf diese Offensive vorbereitet. Zwei Faktoren waren jetzt besonders wichtig: Erstens war die Hisbollah in andere Konflikte verwickelt und hat ihre Kämpfer aus Syrien abgezogen. Auch Russland ist gerade durch den Krieg mit der Ukraine abgelenkt. Zweitens wollten die Gruppen verhindern, dass ihre Offensive als Teil der israelischen Angriffe auf die Hisbollah wahrgenommen wird, deshalb haben sie einen Waffenstillstand im Libanon abgewartet. Hinzu kommt, dass das Regime in den letzten Monaten seine Angriffe auf zivile Ziele in Nordwest-Syrien intensiviert hat. Für die Opposition war es daher nur eine Frage der Zeit, bis sie reagiert.
Wie kann es sein, dass das Assad-Regime fast ohne Gegenwehr durch das syrische Militär gefallen ist?
Assad hat sich immer schon sehr stark auf die russische Luftunterstützung und iranische sowie Hisbollah-Kämpfer verlassen. Diese Kräfte sind gerade anderweitig gebunden, was enorme Lücken in der Verteidigung hinterlassen hat. Außerdem ist die Moral von Assads Armee aufgrund niedriger Gehälter und Korruption innerhalb des Militärs geschwächt. Klar, wenn du kaum noch genug Sold bekommst, um davon zu leben, bist du auch weniger bereit, dein Leben zu opfern. Viele Waffen und finanzielle Mittel, die das Regime von seinen Verbündeten erhalten hat, sind in Korruption versickert.
Je nachdem, wen man fragt, wird Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) entweder als Dschihadisten ähnlich wie der IS, als islamistische Gruppe mit Verbindungen zu Al-Qaida oder als Freiheitskämpfer beschrieben. Wie schätzen Sie die Gruppe ein?
Es gibt viel Verwirrung darüber, wer diese Gruppen sind. Das liegt daran, dass ihre Entwicklung über die Jahre stark variiert hat. In ihren Anfängen waren sie radikal-islamistisch und standen Al-Qaida nahe. Doch seit 2016 haben sie sich zunehmend davon distanziert, sowohl in ihrem Diskurs als auch durch ihre Taten. Sie haben Isis-Zellen in Nord-Syrien bekämpft und sich vom globalen Dschihad abgegrenzt. Heute behaupten sie, dass sie sich auf Syrien konzentrieren, und wollen als lokale Akteure anerkannt werden, als eine islamistische Gruppe, die eine bessere Zukunft für Syrien schaffen will. Der HTS-Anführer Abu Muhammad Al-Dscholani betont, man wolle Minderheiten, wie Christen oder Assyrer schützen. Ob sich die HTS dauerhaft an diese Versprechen halten wird, bleibt abzuwarten.
Es gab Berichte über Gewalt gegen kurdische Zivilisten im Nordosten des Landes.
Die Berichte beziehen sich auf Fraktionen innerhalb der Syrischen Nationalarmee (SNA), die direkt von der Türkei unterstützt wird. Diese Gruppen haben eine eigene Offensive gegen kurdische Kräfte östlich von Aleppo und anderen Gebieten durchgeführt. Es ist wichtig, zwischen den verschiedenen Gruppen zu unterscheiden.
Welche Rolle spielt die Türkei, welche Interessen verfolgt ihr Präsident Recep Tayyip Erdoğan?
Berichten zufolge hat die Türkei die Offensive der HTS-Milizen nicht direkt unterstützt oder vorangetrieben. Es scheint, dass sie den Gruppen vor Ort die Entscheidung überlassen hat, ohne sich direkt zu beteiligen. Die Türkei profitiert dennoch strategisch. Zum einen, weil jetzt viele syrische Geflüchtete, die in der Türkei lebten, nach Syrien zurückkehren werden. Zum anderen erhofft sich die Türkei offenbar Landgewinn durch die SNA in den kurdischen Gebieten. Aber es ist wichtig zu betonen, dass die HTS eigenständig handelt und nicht komplett von der Türkei kontrolliert wird.
Jetzt besteht die Hoffnung auf ein freies, demokratisches Syrien. Ist das mit den Akteuren vorstellbar, die Syrien aktuell kontrollieren?
Verschiedene Gruppen haben unterschiedliche Vorstellungen von dem Syrien, das sie jetzt aufbauen wollen. Gruppen, die jetzt aufgrund ihrer militärischen Macht das Land kontrollieren, könnten einen friedlichen Übergang in ein demokratisch organisiertes Land zulassen oder diese Aspirationen untergraben, weil das einen Machtverlust für sie bedeuten könnte. Wie es jetzt weitergeht, hängt vor allem davon ab, ob die verschiedenen bewaffneten Gruppen im Land – HTS, SNA, die pro-kurdischen Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) – und die politischen Oppositionsgruppen in der Diaspora ihre Unterschiede überwinden können, um dann gemeinsam die Zukunft des Landes zu gestalten.
Wie müsste diese Entwicklung aus Ihrer Sicht aussehen?
Zunächst muss der Weg dafür bereitet werden, dass die syrischen Menschen demokratisch über die Zukunft ihres Landes bestimmen können, statt sich einfach nur mit der Macht, die Gruppen aufgrund ihrer militärischen Macht haben, arrangieren zu müssen. Damit das passiert, muss die internationale Gemeinschaft mit den Gruppen vor Ort in Kontakt treten, um sicherzustellen, dass alle Akteure in den Übergangsprozess eingebunden werden. Bisher werden die Kurdischen SDF und auch die HTS von der internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen. Die HTS hat mehrfach betont, dass sie sich verändert hat, bereit ist, als ernstzunehmender politischer Akteur zu agieren. Ob das stimmt, werden wir sehen.
Gehen Sie davon aus, dass politische Aktivist*innen aus der Diaspora nach Syrien zurückkehren, um Teil des Prozesses zu werden?
Viele sind jetzt voller Aufregung und Freude aber eine solche Entscheidung wird niemand über Nacht fällen. Die meisten werden erst einmal abwarten, wie sich die Lage weiter entwickelt. Wir sind gerade an einem wichtigen Scheidepunkt aber das Land ist immer noch geteilt. Im Nordosten sind die kurdischen Gruppen, die weiterhin in Kämpfe mit den türkisch-unterstützten Gruppen im Nordwesten verwickelt sind. In der Küstenregion sind immer noch letzte überreste der Regime-Kräfte und dann gibt es unterschiedliche bewaffnete Gruppen, die die befreiten Gebiete kontrollieren. Neben HTS, der stärksten Gruppe, gibt es zum Beispiel militante drusische Gruppen im Süden. Es ist zu früh, um jetzt mit Sicherheit zu sagen, dass die Situation stabil bleibt.
Gibt es schon erste Hinweise darauf, wie die HTS sich jetzt verhalten wird?
Alles, was wir bisher beobachten konnten, gibt Hoffnung. Als die HTS vor einigen Tagen Aleppo eroberte, gab es Zusicherungen für die religiösen Minderheiten in der Stadt. Bisher scheinen die HTS-Truppen sehr diszipliniert. Wir sehen keine Berichte über Gewalt gegen Minderheiten oder Plünderungen in diesen Gegenden. Die HTS sagt auch, dass sie bereit sind, Macht zu teilen und behördliche Aufgaben an lokale Gremien zu übergeben. Das sind gute Zeichen. Wir dürfen aber nicht blind darauf vertrauen, dass sie das wirklich umsetzen. In der Vergangenheit hat sich die HTS anders verhalten. Im Nordwesten Syriens, wo sie schon länger an der Macht ist, hat sie lokalen Gemeinschaften nicht erlaubt, ihre eigenen Vertreter zu wählen und politisch mitzubestimmen. Man muss also ganz genau hinschauen, wie sich die Gruppe weiter verhält. Ein erster Schritt wäre, dass internationale Akteure mit der HTS zusammenarbeiten, um Druck auszuüben, damit sie ihre Versprechen halten.
Warum sehen vor allem kurdische Gruppen und andere Minderheiten eine Bedrohung in der HTS?
Auch Kurden feiern den Fall des Assad-Regimes, obwohl dies bedeutet, dass die Türkei und ihre Verbündeten an Einfluss gewinnen. Das könnte ihre Position in Verhandlungen und die Kontrolle über die kurdischen Gebiete gefährden. Bei Minderheiten wie Christen oder Assyrern ist es ähnlich: Auch sie haben gestern gefeiert, sind aber besorgt, weil sie noch nicht wissen, was der Machtwechsel für sie bringt, ob ihre Rechte und Freiheiten von islamistischen Gruppen gewahrt werden.
Und warum greift Israel jetzt vermehrt Ziele in Syrien an?
Israel will offenbar die militärischen Kapazitäten der syrischen Gruppen schwächen, weil diese eine Bedrohung für Israel darstellen. Deshalb bombardieren sie vor allem Militärflughäfen, Waffenarsenale und Ähnliches. Außerdem will Israel gerade deutlich machen, dass sie Angriffe auf die israelisch-annektierten syrischen Golanhöhen nicht tolerieren werden – obwohl es keine Aussagen oder Versuche dieser Art von syrischen Gruppen gegeben hat. Aktuell behauptet Israel, man wolle sich mit einer Pufferzone auf syrischem Gebiet vor etwaigen Angriffen schützen – das könnte aber ein falscher Vorwand sein, um weitere Gebiete auf Dauer einzunehmen. Das werden die nächsten Wochen zeigen.
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