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Kurz vor knapp steht die Mehrheit für Mario Voigt
Brombeer-Koalition und Linke einigen sich auf Zusammenarbeit
Es vergeht gerade kaum ein Tag in Thüringen, an dem nicht ziemlich spontan zu irgendetwas eingeladen wird. Etwa eine Sondersitzung des Landtags zum Zwecke der Wahl eines Ministerpräsidenten, mit einer Vorlaufzeit von ungefähr 48 Stunden. Oder eine Pressekonferenz zur Rechtsauffassung des Landtagspräsidenten für den Fall, dass dabei ein dritter Wahlgang erforderlich sein sollte, mit einer Vorlaufzeit von 15 Stunden. Oder die Unterzeichnung des Brombeer-Koalitionsvertrages zwischen CDU, BSW und SPD, Vorlaufzeit etwa 30 Stunden.
So sehr dieser Zeitdruck den Stresspegel bei allen Beteiligten in den vergangenen Tagen nach oben getrieben hat, so sehr hat er auch dazu geführt, dass die Regierungsbildung in Thüringen nun tatsächlich einigermaßen reibungslos über die Bühne gehen könnte. Denn je näher die für diesen Donnerstag geplante Ministerpräsidentenwahl gekommen war, desto mehr war die CDU bereit, auf eine Kernforderung der Linken einzugehen; ein Ansinnen, das die Union lange Zeit zurückgewiesen hatte. Auch im Entwurf des Koalitionsvertrages, der am Mittwoch – und damit ebenfalls kurz vor knapp – unterzeichnet worden ist und in dem es heißt: »Es bedarf keiner gesonderten Vereinbarung mit der Linken, das schließt Gespräche zu Sachfragen nicht aus.«
Um all das zu verstehen, muss man sich noch einmal kurz die Ausgangslage in Thüringen seit der Landtagswahl 2024 vor Augen führen: Nach zehn Jahren endet die rot-rot-grüne Ära im Freistaat; Die Linke hatte eine krachende Wahlniederlage erlitten. CDU, BSW und SPD formen nun gemeinsam eine Brombeer-Koalition und verfügen im Landtag zusammen über 44 Sitze, was bedeutet, dass dieses Bündnis zwar nicht von der Opposition überstimmt werden kann – anders als die rot-rot-grüne Minderheitskoalition zwischen 2019 und 2024. Doch hat das Brombeer-Bündnis eben auch keine eigene Mehrheit im Parlament, dafür fehlt genau ein Sitz. Und weil CDU, BSW und SPD sich vorgenommen haben, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten, müssen sie sich also stets mit der Linken abstimmen, wenn sie Dinge durch den Landtag bringen wollen, ohne dass die Stimmen der Rechtsextremen dabei ausschlaggebend sind. Zuletzt wurde in Thüringen viel darüber diskutiert, ob aus Voigt ein neuer Kemmerich wird, falls die entscheidenden Stimmen bei seiner Wahl von der AfD kommen.
In dieser Diskussion hatten sich Vertreter von CDU und BSW betont entspannt gegeben. Voigt könne die Wahl zum Regierungschef auch dann »selbstverständlich« annehmen, wenn er mit AfD-Stimmen ins Amt kommen sollte, hatte zum Beispiel die BSW-Bundesvorsitzende Sahra Wagenknecht erst am Samstag gesagt. Der CDU-Mann werde immerhin die Stimmen des BSW bekommen und sei damit spätestens im dritten Wahlgang gewählt. »Also es hängt ja nicht daran, ob die AfD ihn wählt oder nicht.« In der SPD allerdings war das Entsetzen über solche Gedankenspiele groß, was nach Angaben aus SPD-Kreisen in der Drohung gegenüber Voigt gipfelte, die Brombeer-Koalition am Tag nach der Ministerpräsidentenwahl direkt wieder platzen zu lassen.
Und je näher die Ministerpräsidentenwahl rückt, je kürzer vor knapp es inzwischen geworden war, desto mehr haben sich die CDU-Leute um Voigt eben bewegt – am Dienstag so sehr, dass die Brombeer-Koalition der Linken die Erarbeitung von etwas angeboten hat, das die mögliche Koalition ein »parlamentarisches Pflichtenheft« nennt. Wobei es bei der Formulierung sicher kein Zufall ist, dass Thüringens Vorzeige-Linker Bodo Ramelow ein paar Tage zuvor bereits die Nutzung eines solchen »Pflichtenhefts« vorgeschlagen hatte. Die parlamentarischen Geschäftsführer der Landtagsfraktionen von CDU, BSW, SPD und Linkspartei sollten sich damit zu bestimmten Dingen verpflichten, hatte er vorgeschlagen; ein Versuch ein solches Schriftstück von der Ebene der Parteien auf die Ebene der Fraktionen zu ziehen, damit die CDU behaupten kann, dass sie sich an ihren Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber der Linken hält. Bereits am Montag hatte Die Linke der Brombeer-Koalition wiederum den Abschluss eines neuen »Stabilitätspaktes« vorgeschlagen – und dabei eine Formulierung genutzt, die die CDU 2020 erfunden hatte, als sie – auch damals schon trotz des Unvereinbarkeitsbeschlusses – eine schriftliche Vereinbarung mit Rot-Rot-Grün geschlossen hatte.
Der Linke-Vorschlag vom Montag als auch der CDU-geführte Brombeer-Vorschlag vom Dienstag laufen inhaltlich auf das Gleiche hinaus: auf eine schriftliche Duldungsvereinbarung der Linken gegenüber der CDU, sodass sichergestellt ist, dass weder bei der Ministerpräsidentenwahl noch beim Haushalt noch bei anderen landespolitischen Themen die Stimmen der AfD den Ausschlag geben. Genau darauf pocht Die Linke eigentlich schon seit dem Wahlabend: auf eine solche schriftliche Vereinbarung. Dass im Koalitionsvertrag steht, es bedürfe »keiner gesonderten Vereinbarung mit der Linken«, hat nicht ohne Grund zuletzt kaum noch jemand aus der CDU zitiert.
Die finale Einigung mit der Linken über den genauen Wortlaut dieses Dokuments steht zwar noch aus. Es kann gut sein, dass sie sogar erst am Donnerstagmorgen kommt. In jedem Fall nur Stunden vor dem ersten Wahlgang der Ministerpräsidentenwahl. Aber weil sich die Linke-Ko-Vorsitzende Ulrike Grosse Röthig vom CDU-Vorschlag vom Dienstag bereits recht angetan gezeigt hatte, deutet vieles darauf hin, dass die Wahl des neuen Erfurter Regierungschefs geordneter und planbarer laufen dürfte als die vom 5. Februar 2020. Damals war zunächst der FDP-Mann Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden, musste aber nach wenigen Tagen zurücktreten und den Weg für Bodo Ramelow frei machen. »Wir sind durchaus zuversichtlich, dass wir uns einigen können«, sagte Grosse-Röthig nun.
Wenn das so kommt, wäre es ein Zeichen dafür, dass selbst in Thüringen die Landespolitik aus den Fehlern der vergangenen Jahre lernen kann. Wenn auch nur kurz vor knapp – und wenngleich sich noch zeigen muss, wann diese Lektion vielleicht wieder in Vergessenheit gerät. Denn Regieren ist viel mehr, als einen Ministerpräsidenten wählen.
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