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  • Neue »Outdoor-Ausstellung«

Gedenkkultur ohne Zeitzeugen

Eine neue »Outdoor-Ausstellung« soll die Geschichte des KZ Buchenwald anhand ausgewählter Bilder kompakt erzählen

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 6 Min.
An diesem Ort wurden auch die Jugendlichen ganz still, die sich zuvor noch laut und unbekümmert unterhalten hatten: Das frühere Krematorium von Buchenwald, in dem die Leichen Ermordeter verbrannt wurden.
An diesem Ort wurden auch die Jugendlichen ganz still, die sich zuvor noch laut und unbekümmert unterhalten hatten: Das frühere Krematorium von Buchenwald, in dem die Leichen Ermordeter verbrannt wurden.

Es geht einigermaßen laut zu bei vielen der verschiedenen Schülergruppen, die sich an diesem tristen, kalten und windigen Tag über das Gelände der Gedenkstätte Buchenwald bewegen. Die Wetter-App sagt, dass die gefühlte Temperatur bei nur einem Grad Celsius liegt und direkt neben dem Parkplatz der Gedenkstätte fragt ein Jugendlicher seinen Lehrer, wie lange man denn hier oben werde aushalten müssen. »Ungefähr eineinhalb Stunden«, gibt der Mann zurück. Die Begeisterung des Jugendlichen ob dieser Aussicht hält sich sicht- und hörbar in Grenzen.

Ein paar hundert Meter entfernt beschwert sich ein anderer Schüler, dass die Baracken des einstigen Konzentrationslagers nicht mehr stehen. »Da hinten ist noch diese Erschießungsanlage, mehr ist hier ja nicht, deshalb will ich mal nach Auschwitz«, sagt der vielleicht 15-Jährige. Dann lassen er und seine Mitschüler sich auf einer Bank nieder und reden über die Kälte.

Zwischen diesen beiden Szenen stehen drei Mädchen an dem Gedenkzeichen kurz hinter dem Lagertor, auf dem der berüchtigte schmiedeeiserne Schriftzug »Jedem das Seine« zu sehen ist. Es ist eine Platte, die ständig auf die menschliche Körpertemperatur erwärmt wird – »als Zeichen dafür, was alle, denen die Nationalsozialisten ihr Lebensrecht absprachen, vereint: ihr Menschsein«, erklärt die Gedenkstättenleitung den Zweck.

Eines der Mädchen sagt: »Es waren ja auch Kinder hier.« Alle drei blicken auf die Schleife eines Kranzes. Drei zehnte Klassen einer Realschule aus Bad Bentheim in Niedersachsen haben diesen Kranz aus weißen Rosen hier niedergelegt. Das zweite Mädchen sagt: »Es gab ja Hunderte von diesen Camps überall in Deutschland.« Das dritte Mädchen gibt zurück: »Und die in Deutschland waren noch harmlos. Die richtig krassen standen außerhalb Deutschlands.«

So ist es also bestellt um die Erinnerungskultur in Deutschland 80 Jahre nach der Befreiung des KZ Buchenwald am 11. April 1945 und der Kapitulation Nazideutschlands vor den Alliierten wenige Wochen später: Zerrbilder, Halbwahrheiten, wenig gefestigtes Wissen unter jungen Menschen.

Dazu kommt eine immer drängender werdende Frage: Wie kann die Erinnerung an die NS-Verbrechen und wie können die Lehren daraus in den nächsten Jahrzehnten in Deutschland wach gehalten werden? Denn sehr bald werden die letzten noch lebenden Zeitzeugen dieses Horrors sterben. Am Sonntag, zur Gedenkfeier an die Befreiung des KZ Buchenwald, waren noch einmal zehn Überlebende des Lagers aus Belarus, Deutschland, Frankreich, Israel, Rumänien und der Schweiz angereist. In der Vergangenheit waren es deutlich mehr. Man erlebe nun den »Abschied von der Zeitgenossenschaft«, sagt der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner.

Und danach? Historiker, Gedenkstättenpädagogen und andere Fachleute befassen sich schon seit vielen Jahren mit dieser Frage – ohne darauf eine abschließende Antwort gefunden zu haben. Gedenkstätten, Erinnerungsorte und Archive halten die Erinnerungen der Zeitzeugen seit Langem dadurch fest, dass sie mit ihnen Interviews führen und Videos und Tonaufzeichnungen davon erstellen.

So bleiben die Schilderungen derjenigen erhalten, die die Konzentrations- und Vernichtungslager der deutschen Faschisten überlebt haben. Sie werden in Dokumentarfilmen verwendet und können kommende Generationen noch lange nach dem Tod dieser Menschen berühren. Es ist aber unbestritten, dass Videoaufnahmen – gerade in Zeiten von Reizüberflutung und Unmengen von Bewegtbildern in sozialen Netzwerken – eine viel schwächere Wirkung haben als persönliche Gespräche mit Überlebenden.

Einen neuen, anderen Versuch, die Erinnerung in der Post-Zeitzeugen-Gesellschaft zu »stabilisieren«, hat die Gedenkstätte Buchenwald mit einer kurz vor den Gedenkfeierlichkeiten eröffneten Ausstellung unternommen. Es ist eine »Outdoor-Ausstellung« auf ihrem Gelände, die die Geschichte des Ortes anhand von zwölf Stelen erzählt, darauf insbesondere Fotografien. »Buchenwald 1945. Szenen aus dem befreiten Lager«, heißt die Schau. Auf einem der Bilder sind vier lächelnde Kinder zu sehen, aufgenommen am 24. April 1945, also etwa zwei Wochen nach ihrer Befreiung durch die US-Armee.

An den Stelen der neuen Ausstellung bleiben manche Schüler stehen, andere gehen einfach weiter. Doch im früheren Krematorium, wo die toten Häftlinge verbrannt wurden, schweigen alle erschüttert.

An den Stelen gehen viele der jungen Menschen vorbei, die an diesem Tag hier unterwegs sind. Manche bleiben stehen, um zu lesen, die Fotografien anzuschauen. Andere nicht.

Auf einer anderen Stele ist zu sehen, wie befreite Häftlinge einen SS-Mann in Zivilkleidung gefangen nehmen. »Die Täter stellen«, steht über dem entsprechenden Foto. Ein dritte Stele – überschrieben mit »Die Bevölkerung konfrontieren« – steht vor dem einstigen Krematorium des KZ. Darauf eine Szene, in der Überlebende des Lagers und US-Soldaten Einwohnern der benachbarten Stadt Weimar die Leichen verstorbener Häftlinge zeigen. Die Stelen sind ein Versuch, die Erinnerung an die NS-Gräuel dadurch lebendig zu halten, dass bislang verhältnismäßig unbekannte Facetten der Lagergeschichte mit verhältnismäßig wenig bekannten Bildern vorgestellt und erklärt werden.

Angesichts dessen, was die Schüler dazu sagen – und was sie nicht sagen –, fragt man sich allerdings, ob es viele Besucher nicht überfordert, sich mit eher unbekannten Facetten der deutschen NS-Geschichte zu beschäftigen, wo es vielen doch an soliden Grundkenntnissen dazu mangelt.

Der anfangs erwähnte Lehrer unterhielt sich auch noch mit einem anderen seiner Schüler. Der sagte zu dem Pädagogen: »Was ich schon immer mal wissen wollte: Warum haben die Leute außerhalb dieser Lager nicht mitbekommen, was hier passiert?« Vor den Überresten des sogenannten Kleinen Lagers von Buchenwald unterhalten sich kurz darauf drei Schüler darüber, dass hier angeblich »nur Obdachlose« interniert gewesen seien.

Selbstverständlich gibt es aber auch Momente, die Hoffnung machen. Ausgerechnet im einstigen Krematorium Buchenwalds lässt sich ein solcher Moment erleben – einem authentischen Ort des Verbrechens, der unvergänglich ist, wenn die deutsche Gesellschaft ihn denn weiter erhält. Hier ist es auffallend still. Selbst Schüler, die sich auf dem Außengelände laut und ausgelassen unterhalten haben, schweigen hier.

Aus einer Dreier-Gruppe Jugendlicher – keiner der Jungen ist älter als 15 Jahre – drückt einer von ihnen die hölzerne Tür auf, die dorthin führt, wo noch immer die sechs Verbrennungsöfen stehen, die von der Erfurter Firma »Topf & Söhne« entwickelt worden waren. Drei Worte entfahren einem der Jungen: »Ach Du Scheiße.« Zwei Mädchen kommen ein paar Minuten später herein, verstummen ebenfalls und beugen sich über die Blumen und einen handgeschrieben Brief, der in der Mitte des Raums liegt. Sie schweigen noch, nachdem sie hinausgegangen sind.

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