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Teuerung als Wahlkampffaktor
Die Europäische Zentralbank senkt weiter die Zinsen, doch die Inflation steigt wieder
Christine Lagarde wird an diesem Freitag in Frankfurt am Main voraussichtlich eine weitere Leitzinssenkung der Europäischen Zentralbank (EZB) verkünden – es wäre die vierte seit dem September 2023. Bis dahin hatte der sogenannte Hauptrefinanzierungssatz 4,5 Prozent betragen. Das erwartete Absenken des Leitzinses von 3,4 auf 3,0 Prozent dürfte die Börsen weiter beflügeln und mittelfristig die Wirtschaft. Auf letzteres setzen linke Ökonomen, wenn sie sich für sinkende Leitzinsen aussprechen. Dies ermöglicht Unternehmen preiswertere Kredite, um zu investieren, lautet deren Argumentation.
Maßstab für das Handeln der EZB sind aber weder Aktienkurse noch Konjunktur oder geopolitische Krisen. Ihr Mandat schreibt der formal unabhängigen Notenbank der Eurozone allein einen Zielkorridor für Preisstabilität vor. Die Inflationsrate in Deutschland − gemessen als Veränderung des Verbraucherpreisindexes zum Vorjahresmonat – lag im November bei 2,2 Prozent und damit im grünen Bereich. Darin bewegen sich seit einigen Monaten auch die für Lagarde und ihren Rat maßgeblichen Preise in der gesamten Eurozone.
Ob es dabei bleibt, ist indes umstritten. So schätzt das europäische Statistikamt die Jahresrate bei der Inflation im Euroraum für den November auf 2,3 Prozent – gegenüber 2,0 Prozent im Oktober. Die Teuerung scheint also wieder anzuziehen und hartnäckiger als erhofft zu sein. Zurzeit gebe es keine Anzeichen, merkte EZB-Direktorin Isabel Schnabel unlängst an, dass die Inflation für längere Zeit unter das Notenbankziel sinken könnte. Die Kosten für Strom und Wärme, die hohe Nachfrage nach Handwerkern und anderen Dienstleistern sowie steigende Reallöhne könnten die Inflation anfachen. Zudem planen in Industrie und Einzelhandel viele Unternehmen weitere Preiserhöhungen, wie Umfragen der Branchenverbände zeigen.
Tatsächlich steigen die Kreditzinsen, während die Zinsen für Sparer wieder sinken. In der Spitze gibt es 3,55 Prozent für Tagesgeld und 3,25 Prozent für einjähriges Festgeld, wie ein am Mittwoch veröffentlichter Vergleich der Stiftung Warentest zeigt.
Mit Blick auf die im Februar anstehende Bundestagswahl haben Ökonomen den Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage und Wahlverhalten untersucht. Eine unerwartet hohe Inflation und ein schwaches Wirtschaftswachstum bringen »extremistischen und populistischen« Parteien spürbare Stimmenzuwächse bei Wahlen, will eine aktuelle Studie des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel zeigen. Die Forscher erklären dies vor allem mit den damit einhergehenden Reallohnverlusten: »Sowohl ein Teil des Zuspruchs für Donald Trump in den USA als auch für die AfD und das BSW in Deutschland sind durch diesen Effekt zu erklären.« Bei den vorgezogenen Bundestagswahlen dürfte danach die Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre für insgesamt rund zwei Prozentpunkte der Stimmanteile der beiden Parteien verantwortlich sein. Grund dafür seien die sinkende Kaufkraft der Bevölkerung, weil die Preise schneller steigen als die Einkommen und die Ersparnisse. Wenn Lohnerhöhungen den Inflationsschock ausgleichen, falle der Stimmenzuwachs deutlich geringer aus.
IfW-Präsident Moritz Schularick und seine zwei Ko-Forscher haben dazu 365 Wahlen in 18 Industrieländern zwischen 1948 und 2023 untersucht. Die Studie des IfW Kiel betont erstmals die Rolle von »Überraschungen« bei der Inflationsentwicklung – die Differenz zwischen der tatsächlichen Inflation und den Inflationserwartungen ein Jahr vorher.
Zurzeit decken sich die Erwartungen der Menschen ziemlich genau mit der tatsächlichen Inflationsentwicklung. Dies zeigt zumindest eine monatliche EZB-Umfrage. Der Median der Inflationserwartungen für die kommenden zwölf Monate stieg demnach leicht auf 2,5 Prozent. Er gibt aber auch lediglich den mittleren Wert an.
Ohnehin scheint die Stimmung in der Eurozone schlechter zu sein, als es EZB und Bundesbank wahrhaben wollen. Zwar nahm die Inflationsrate seit zwei Jahren ab, aber die Preise gingen nicht zurück. Legt man die vergangenen Jahre zusammen, kommt ein dickes Paket heraus: Der Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes legte, seit die Inflation im Sommer 2020 ins Rollen kam, um rund 20 Prozent zu. Preise für Nahrungsmittel, die oft die persönliche Wahrnehmung der Inflation prägen, legten bis November sogar um rund 35 Prozent zu.
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