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»Es ist immer noch gefährlich, Hilfe zu leisten«
Adib Abokhors arbeitet für die Welthungerhilfe in Syrien und möchte dazu beitragen, sein verwüstetes Land wieder aufzubauen
Adib Abokhors, wie haben Sie den Sturz Assads erlebt?
Ich habe in den Tagen des Vorrückens der Oppositionskräfte auf Damaskus kaum geschlafen. Ich konnte es nicht erwarten, dass sie das Saidnaja-Gefängnis erreichen und die daran teilweise seit über zehn Jahren eingesperrten Menschen befreien. Diese Menschen sind keine Kriminellen, sie wurden nur eingesperrt, gefoltert und getötet, weil sie gegen das Assad-Regime waren. Als die Befreiten nach ihrem Namen gefragt wurden, haben manche nur ihre Gefangenennummer genannt. Manche Häftlinge wussten nicht mal mehr, wie sie heißen, weil sie über Jahre systematisch entmenschlicht wurden. Auch ein Freund meines Vaters landete vor rund zehn Jahren in einem der Foltergefängnisse.
Wurde er befreit?
Bislang fehlt von ihm jede Spur, wir wissen nicht, ob er die Haft überlebt hat. Viele Menschen haben in den Foltergefängnissen schreckliche Dinge erlebt und so ihr Gedächtnis verloren.
Nach Assads Flucht wurden in einer Garage in der Nähe des Präsidentenpalasts mindestens 50 Luxusfahrzeuge, darunter ein seltener Ferrari F50, gefunden. Was haben Sie empfunden, als Sie die Bilder von Assads Fuhrpark sahen?
Adib Abokhors (28) wurde in Aleppo geboren. Er hat Syrien nie verlassen, musste aber mehrfach mit seiner Familie vor den Kämpfen fliehen. Vor vier Jahren unterbrach er sein Studium der englischen Literaturwissenschaft, um eine Stelle als Presse- und Kommunikationsexperte im Welthungerhilfe-Büro in Azaz im Nordwesten des Landes anzutreten. Er hofft, sein Studium eines Tages in seiner Heimatstadt Aleppo beenden zu können.
Als ich Assads Luxusautos sah, habe ich, wie alle Syrerinnen und Syrer, Wut und Ekel verspürt. Während die Menschen in Syrien verhungerten und Eltern zusehen mussten, wie ihre Kinder starben, weil es keine Medikamente gab, hortete Assad Luxusautos. Es ist einfach ekelhaft.
Haben Sie einen Überblick, wer in Syrien aktuell auf humanitäre Hilfe angewiesen ist?
Nach über 13 Jahren Krieg benötigen 16,7 Millionen Menschen in Syrien humanitäre Hilfe, das entspricht zwei Dritteln der Bevölkerung. Etwa 13 Millionen Menschen, rund die Hälfte der Bevölkerung, können sich ohne Hilfe nicht ausreichend ernähren.
Unter welchen Problemen leiden die Menschen in Syrien derzeit?
Die ohnehin schwierige Situation wird durch eine tiefe Wirtschaftskrise, steigende Preise und den massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen weiter verschärft. Angestellte erhalten umgerechnet rund 25 Dollar Gehalt pro Monat. Aber schon ein 600-Gramm-Brot kostet ungefähr einen Dollar. Zerstörte Schulen, Krankenhäuser und Wassersysteme erschweren den Menschen den Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und sauberem Wasser. Viele Familien leben weiterhin in Unsicherheit und blicken einer ungewissen Zukunft entgegen. Gewalt und Vertreibung prägen weiterhin in einigen Regionen den Alltag vieler Familien.
Weil viele Häuser komplett zerstört wurden, leben Millionen von Binnenvertriebenen in provisorischen Unterkünften, die kaum Schutz vor eisigen Temperaturen, Schnee und Regen bieten. Das Risiko von Krankheiten wie Atemwegsinfektionen ist vor allem bei Kindern und älteren Menschen entsprechend hoch. Und jetzt kommen noch die rückkehrenden Familien hinzu.
Wie hilft Ihre Organisation derzeit den Menschen in Syrien?
Die Welthungerhilfe stellt und repariert Notunterkünfte, installiert und wartet sanitäre Anlagen, verteilt Decken, Kochutensilien und Hygienepakete und führt Hygieneschulungen durch. Wir geben in Flüchtlingslagern Nahrungsmittelpakete aus und unterstützen Vertriebene mit Bargeld, damit sie ihre zerstörten Häuser reparieren und Kleidung und Heizmaterial kaufen können. Im letzten Jahr haben wir mit einem Budget von 23,3 Millionen Euro rund eine Million Menschen erreicht.
Mit wie vielen Helferinnen und Helfern sind Sie in Syrien im Einsatz?
Wir haben derzeit rund 90 feste und 60 freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mit der Ausweitung unserer Aktivitäten wird die Zahl sicher steigen. Derzeit arbeiten in Syrien nur Syrerinnen und Syrer für die Welthungerhilfe. Viele von ihnen hätten während des Krieges fliehen können, doch sie sind im Land geblieben, um Menschen in Not zu helfen.
Sind Sie selbst vor dem Krieg geflohen?
Nein, ich habe Syrien nie verlassen. Ich wurde in Aleppo geboren. Ich war 15 Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Wegen der Kämpfe bin ich zunächst ungefähr zwei Jahre nicht zur Schule gegangen. Als ich endlich wieder zum Unterricht konnte, sagten meine Eltern eines Tages: »Geh heute nicht. Es ist zu gefährlich!« An dem Tag wurde meine Schule von den Assad-Truppen bombardiert. Mein bester Freund verlor sein Bein, mein Lehrer wurde getötet. Ich selbst wurde vor acht Jahren fast erschossen.
Wer hat auf Sie geschossen?
Assad-Scharfschützen. Am 21. Oktober 2016 ging ich durch Aleppo, um mich von meiner Heimatstadt zu verabschieden. Es war zu gefährlich geworden, um dort zu leben. Während meines Abschiedsspaziergangs wurde ich von einer Kugel getroffen (Adib Abokhors beugt sich vor und zeigt über den Computer-Bildschirm eine Narbe an seinem Kinn). Das Blut lief mir über den Rachen in die Lunge. Ich wäre beinahe an meinem eigenen Blut erstickt. Hier (er zeigt eine weitere Narbe am Hals) wurde mir der Hals aufgeschnitten, damit das Blut ablaufen konnte.
Ist es auch nach dem Sturz von Assad gefährlich, in Syrien Hilfe zu leisten?
Ja, wir können nicht ausschließen, dass es noch Assad-treue Schläferzellen gibt. Aber seit dem Ende des Regimes ist es auf jeden Fall einfacher und sicherer geworden, Hilfe zu leisten.
Warum?
Jetzt kann die Hilfe auch in Landesteilen, die bislang von Assad kontrolliert wurden, ankommen – dort, wo sie am dringendsten gebraucht wird, anstatt bei Freunden, Verwandten oder Verbündeten Assads zu verschwinden. Die Welthungerhilfe hat nicht in den von Assad kontrollierten Gebieten gearbeitet.
Besteht die Gefahr, dass die HTS, das islamistische Bündnis verschiedener Milizen, das Assad jetzt gestürzt hat, die humanitäre Hilfe für ihre Zwecke instrumentalisiert?
Die Gefahr sehe ich nicht. Die Welthungerhilfe arbeitet seit Jahren in Gebieten, die von der HTS kontrolliert werden. Wir können dort gemäß den humanitären Prinzipien arbeiten, sodass die Hilfe bei denen ankommt, die sie am dringendsten benötigen. Das Assad-Regime hingegen hat Hunger als Kriegswaffe eingesetzt und Gebiete, die nicht unter seiner Kontrolle standen, systematisch aushungern lassen.
Werden in Zukunft in Syrien mehr oder weniger Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sein?
Die Zahl der Bedürftigen wird steigen, denn das Land ist nach 13 Jahren Krieg verwüstet. Es gibt Gegenden, in denen stehen kein Haus und kein Baum mehr. Hinzu kommt, dass nach dem Ende des Assad-Regimes viele Menschen in ihre Heimat zurückkehren werden.
Denken Sie schon an den Wiederaufbau?
Die Welthungerhilfe plant schon jetzt, von der Nothilfe zu mittel- und langfristigen Entwicklungsprojekten überzugehen, um den Wiederaufbau der Infrastruktur zu unterstützen und Lebensgrundlagen für die Menschen wiederherzustellen. Dies erfordert jedoch eine stabile Sicherheitslage und ausreichende finanzielle Mittel. Auf jeden Fall muss auch dafür gesorgt werden, dass Schulen schnell wieder aufgebaut werden, damit in Syrien nicht eine verlorene Generation heranwächst.
Gibt es genug Mittel für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau?
Die UN veranschlagten für die humanitäre Hilfe in Syrien für das Jahr 2024 rund vier Milliarden US-Dollar. Davon sind bislang jedoch nur 31,6 Prozent finanziert. Die aktuelle Situation wird voraussichtlich dazu führen, dass der Bedarf weiter steigt, wodurch sich die Finanzierungslücke noch vergrößern dürfte.
Vor allem rechtspopulistische und konservative Politikerinnen und Politiker in Deutschland und Europa fordern jetzt, dass aus Syrien Geflüchtete abgeschoben und keine neuen syrischen Geflüchteten aufgenommen werden sollen. Was sagen Sie dazu?
Für solche Forderungen ist es eindeutig zu früh. Auch wenn wir alle hoffen, dass die Situation sich stabilisiert, dauerhafter Friede einkehrt und Syrien sich von Jahrzehnten der Assad-Herrschaft und mehr als 13 Jahren Krieg erholen wird, wissen wir nicht, wie die Lage sich entwickelt. Ich bin aber überzeugt, dass viele Syrerinnen und Syrer freiwillig zurückkehren werden, um sich am Wiederaufbau ihres Landes zu beteiligen.
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