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Mohammad Al-Baschir: Befreier oder neuer Unterdrücker?
Islamist mit Regierungserfahrung soll bis März die Geschäfte in Syrien führen
Wenn man genau hinschaut, in der Berliner S-Bahn, vor dem Münchner Hauptbahnhof oder im Bus in der südhessischen Einöde, dann fallen Menschen mit deformierten Fingern und großen Narben auf. Wer sich genauer im Nahen und Mittleren Osten auskennt, erkennt darin die Folgen von Folter, Krieg, Vertreibung. Jahrzehntelang kannte das »System Al-Assad« in Syrien keine Grenzen, wenn es um den eigenen Machterhalt ging.
Nun ist Präsident Baschar Al-Assad weg, nach Moskau geflohen, und die Menschen feiern. Und suchen. Und lernen das gesamte Ausmaß der Umtriebe der Al-Assad-Familie kennen: Videos von Sportautos und teuren Handtaschen, von leeren Verpackungen vermutlich teurer Güter machen die Runde. Von Menschen, die im riesigen Sednaja-Gefängnis nach Angehörigen suchen.
Menschen feiern Assads Flucht
Auf der politischen Bühne richtet sich derweil Abu Mohammad Al-Dscholani ein, der bis vor wenigen Tagen noch weitgehend unbekannte Anführer der islamistischen Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS). Ist er ein Befreier oder der nächste Unterdrücker? In den Thinktanks der westlichen und arabischen Welt ist das derzeit das Thema schlechthin.
Offen ist auch die Frage, ob es HTS gelingen wird, eine stabile Regierung und Zivilverwaltung aufzubauen, Recht und Ordnung herzustellen. Am Dienstag wurde der 42-jährige Mohammad Al-Baschir zum Chef einer Übergangsregierung ernannt. Er soll in den kommenden drei Monaten den Übergang leiten.
Neue Regierung bringt Erfahrung mit
Al-Baschir hatte zuvor eine De-facto-Regierung in Idlib geleitet, einer Hochburg der bisherigen islamistischen Oppositionsgruppen; einige der Mitglieder dieser Regierung sollen nun auch Rollen auf nationaler Ebene übernehmen. Das bedeutet auch: Die neuen Machthaber bringen bereits eine gewisse Regierungserfahrung mit. Nach aktuellem Stand werden die bisherigen Gesetze weitergelten. Die neue Regierung will jedoch jene Regelungen aufheben, die das brutale Vorgehen von Polizei, Militär und Geheimdiensten gegen die Bevölkerung auf dem Papier legitimierten.
Ob dies tatsächlich Frieden und Freiheit bedeuten wird, ist völlig offen. Im Osten Syriens gibt es weiterhin Kämpfe zwischen HTS und den kurdischen, von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF). Zudem gingen von der Türkei unterstützte Kampfgruppen rund um Manbidsch im Norden gegen die SDF vor. Das türkische Militär setzte auch Kampfdrohnen ein; rund um die Ortschaft Hasakeh kam es zu Artilleriebeschuss.
Israel bombardiert Ziele in Syrien
Das israelische Militär griff indes mehrere Hundert Ziele an, die dem Militär der Assad-Führung zugerechnet werden. Damit wolle man verhindern, dass Kampfmittel in großen Mengen Rebellengruppen in die Hände fallen. Das US-Militär, das eine Basis in der Wüstenregion an der Grenze zum Irak unterhält, geht derweil seit Tagen gegen den Islamischen Staat vor. Die Organisation, die mehrere Jahre lang ein weiteres Terrorregime in Teilen Syriens und des Irak unterhielt, existiert auch weiterhin, verübte in den vergangenen Jahren immer wieder brutale Angriffe auf Ortschaften in Syrien und im Irak.
Die neue syrische Führung steht damit vor enormen Herausforderungen: Dass nun eine Rebellenallianz islamisch-konservativer Ausrichtung in den Städten mit Jubel empfangen wird, kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass die syrische Gesellschaft immer ethnisch und religiös divers war und das Säkulare und Religiöse eng beieinander liegen.
Neue Regierung muss Bevlkerungsgruppen einigen
Eine weitere große Frage ist also auch, ob es der neuen Führung gelingen wird, alle Bevölkerungsgruppen zu einigen. Im Nordosten des Landes haben die syrischen Kurden einen eigenen De-facto-Staat mit recht gut funktionierenden Strukturen geschaffen – zum Missfallen der türkischen Regierung, die im eigenen Land gegen die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen vorgeht.
Viele der Äußerungen der vergangenen Tage deuten darauf hin, dass man bei der HTS durchaus auf den Jemen und den Irak schaut: Im Jemen hat die Dominanz einer Bevölkerungsgruppe zu einem Bürgerkrieg geführt, dem Hunderttausende zum Opfer fielen. Und im Irak sollte ein vom US-Militär 2004 erfundenes überkomplexes Regierungssystem die Beteiligung aller Gruppen sicherstellen, führte stattdessen jedoch zu oft jahrelangem Stillstand der politischen Entscheidungsprozesse und Korruption.
Kurzfristig wird auch dies passieren: Der Al-Assad-Geheimdienst wird wahrscheinlich abgewickelt; viele der Beamten in der Verwaltung werden aber bleiben. Und irgendwann werden jene, die unter dem Regime Folter, Krieg und Vertreibung erlebten, denjenigen auf der Straße oder in einer Amtsstube begegnen, die ihnen das angetan haben.
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