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Urteil im Fall Dramé: Tödlicher Polizeieinsatz bleibt straflos

Prozess wegen Tod von Mouhamed Dramé endet mit Freisprüchen für fünf Angeklagte

Sidy Dramé, Bruder des getöteten Mouhamed Dramé, nach dem Urteil vor dem Gerichtssaal
Sidy Dramé, Bruder des getöteten Mouhamed Dramé, nach dem Urteil vor dem Gerichtssaal

In Dortmund endete der Strafprozess gegen fünf Polizist*innen, die wegen der Tötung des senegalesischen Geflüchteten Mouhamed Dramé vor dem Landgericht standen, am vergangenen Donnerstag mit vollumfänglichen Freisprüchen. Angeklagt waren der 55-jährige Einsatzleiter Thorsten H. sowie die vier Beamt*innen Jeanine Denise B., Markus B. (beide 34), Pia Katharina B. (29) und Fabian S. (31). Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm erkannte in ihrem Einsatz eine Notwehrlage, da die Polizist*innen das spätere Opfer als gefährlich wahrgenommen hätten.

Dramé wurde am 8. August 2022 im Garten in der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth in der Missundestraße in der Dortmunder Nordstadt von Fabian S. mit einer Maschinenpistole getötet – um 16.47 Uhr, nur 22 Minuten nach dem Notruf eines Betreuers. Der Prozess bestätigte, was schon damals offensichtlich war: Der Erschossene war suizidgefährdet und befand sich in einer psychischen Ausnahmesituation. Dabei handelte es sich um eine im Polizeijargon »statische Situation«, da Dramé in einer Nische kauerte und sich ein Küchenmesser vor den Bauch hielt.

Trotzdem jagte der Trupp aus insgesamt elf Beamt*innen den jungen Mann aus seiner Gartenecke. Die Beamtin Jeanine Denise B. setzte dazu Pfefferspray ein. Sogar der Oberstaatsanwalt Carsten Dombert und die Staatsanwältin Gülkiz Yazir betonten in ihren Plädoyers vor einer Woche, dass Dramés einzige Fluchtmöglichkeit nach Einsatz des Reizstoffes in Richtung der Beamt*innen gelegen war. Keiner der Zeugen aus der Einrichtung bestätigte, dass Dramé dabei »gerannt« sei oder einen Angriffsversuch mit dem Messer unternommen habe. Diese Lüge hatten die Polizei sofort nach der Tat verbreitet, der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) hat sie anschließend wiederholt.

Trotz des offensichtlich nicht erfolgten Angriffs haben die Beamt*innen Markus B. und Pia Katharina B. ihre Taser benutzt, von denen beide trafen, aber nur einer den Stromkreis auslöste. Nur 0,771 Sekunden später feuerte der »Sicherungsschütze« sechs Schüsse ab, von denen fünf Dramé trafen. Das Opfer fiel zu Boden, krampfte vor Schmerzen und wurde trotzdem mit Handfesseln fixiert. Ein Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung berichtete, dass der Einsatzleiter Dramé leicht getreten habe, während er am Boden lag. Dramès Tod wurde schließlich um 18.02 Uhr im Krankenhaus festgestellt.

Am 19. Dezember 2023 begann der Prozess gegen die fünf Beamt*innen im Saal 130 des Dortmunder Landgerichts. In den 51 Wochen bis zum Urteil hatte Richter Kelm 30 Prozesstage angesetzt und ein gutes Dutzend Zeug*innen und Gutachter*innen gehört. Unter ihnen waren auch sechs Einsatzkräfte, die am 8. August 2022 beteiligt waren, aber von der Staatsanwaltschaft nicht angeklagt wurden.

Als Nebenkläger traten bei dem Prozess die Brüder Sidy und Lassana Dramé auf, vertreten wurden sie von der Dortmunder Rechtsanwältin Lisa Grüter. Auch der Kriminologe Thomas Feltes war bis zum Sommer Teil des Teams. Die Nebenklage hat versucht, die von den Angeklagten als Verteidigungsstrategie behauptete Notwehrsituation korrekt darzustellen. Sidy, der ältere Bruder Mouhameds, weinte während der Verkündung des Urteils. »Wir haben den Kampf verloren«, sagt er WDR-Reportern.

Selbst Dramés Bewegungen nach den Schüssen, als er schwer verletzt seine Hände zu den Wunden führte, deutete die Verteidigung als »wehrig« und »renitent«.

Die Verteidigung verlegte sich unter anderem auf eine Delegitimierung von Zeug*innen, denen widersprüchliche Aussagen unterstellt wurden. Die tödliche Gewalt sei notwendig gewesen, um einen Suizid zu verhindern, war eine der Argumentationen. Am Ende sei der Getötete selbst schuld gewesen, da er sich »falsch verhalten« habe. Selbst Dramés Bewegungen nach den Schüssen, als er schwer verletzt seine Hände zu den Wunden führte, deutete die Verteidigung als »wehrig« und »renitent«.

Die Selbstviktimisierung der angeklagten Polizist*innen wurde durch Medien gestützt. Der Todesschütze betonte vor Gericht glaubwürdig, wie sehr er unter den Ereignissen leide und entschuldigte sich bei den Angehörigen. In einem Podcast des WDR und einer niederträchtigen Reportage von Spiegel-TV wurde ihm aber auch viel Raum gegeben, das Geschehen wie einen Unfall darzustellen. Die tödliche Gewalt erscheint dabei nicht als Fehler der Polizei, sondern als unvermeidlich.

In einer Stellungnahme kritisiert der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed, der den Prozess an jedem Verhandlungstag begleitete, strukturellen Rassismus in der Polizei. Ein »shooting bias« führe zu fatalen Fehlern, die insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte, psychischen Krisen oder Armut beträfen. Zudem habe die falsche Darstellung von Dramé als aggressiven »Messertäter« rassistische Vorurteile verstärkt und der Familie Dramé weiteren Schmerz zugefügt. Die Soligruppe verweist auch darauf, dass der Strafantrag gegen den Einsatzleiter Thorsten H. unter der Grenze zum Verlust des Beamtenstatus liegt.

»Das heutige Urteil wird nicht dazu beitragen, tödliche Polizeieinsätze in Zukunft zu verhindern. Im Gegenteil, das Urteil ist ein Signal an die Polizei: Ihr könnt weitermachen wie bisher, für tödliche Schüsse drohen keine Konsequenzen« , kritisiert Britta Rabe, die den Prozess für das Komitee für Grundrechte und Demokratie beobachtet hat, am Donnerstag.

Der Prozess förderte auch Widersprüche zutage. So wurde deutlich, dass der als Jugendlicher bezeichnete Dramé kaum 16 Jahre alt gewesen sein konnte, wie es in seinen Papieren zu lesen war, sondern eher Anfang oder Mitte 20. Zu den Ungereimtheiten gehört auch, dass Pia B., die einen der Taser ausgelöst hatte, am Einsatztag als Mentorin eines jungen Kommissaranwärters fungierte, der allerdings nicht angeklagt wurde. In einem Chat riet sie ihm, er solle in seiner Aussage »erst mal nicht begründen, warum wir was gemacht haben« und weiterführende Aussagen dem Einsatzleiter Thorsten H. überlassen.

Auch mit H. hatte sich B. in Chatnachrichten ausgetauscht und beispielsweise die Vorladung zur Vernehmung zweier weiterer Beamt*innen thematisiert. Der Einsatzleiter bot an, den beiden bei der Vorbereitung zu helfen. Unmittelbar danach gab es ein Treffen zwischen dem Dortmunder Polizeipräsidenten Gregor Lange und den am Einsatz beteiligten Beamt*innen. Diese Zusammenkunft veranlasste die Oberstaatsanwaltschaft, am 14. September 2022 – also fünf Wochen nach der Tat – die Handys der fünf Beschuldigten sicherzustellen und SMS- und Chat-Verläufe auf Hinweise für Absprachen oder Zeugenbeeinflussung zu untersuchen. Eingang in die Verhandlungen fanden diese Daten aber nicht – Richter Kelm ordnete an, dass die Parteien diese im sogenannten Selbstleseverfahren zur Kenntnis nehmen sollen.

Zu den umstritten Entscheidungen des Richters gehört auch ein Beweisverwertungsverbot für die ersten Aussagen der Angeklagten, die diese gegenüber der damals ermittelnden Polizei Recklinghausen gemacht hatten. Die fünf Beamt*innen seien als Zeug*innen statt als Beschuldigte geführt und daher vor der Befragung falsch belehrt worden, so die Begründung. Allerdings legen Chatnachrichten von Markus B. nahe, dass die Beamt*innen wissen konnten, dass sie als Beschuldigte gelten.

In Deutschland endet der Großteil der Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen im Nichts. Das belegte zuletzt die von Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau, Luise Klaus und Tobias Singelnstein herausgegeben Studie »Gewalt im Amt«. Demnach wurde 2021 nur in 2,3 Prozent der Fälle überhaupt Anklage erhoben. 93 Prozent der Verfahren stellten die Staatsanwaltschaften mit der Begründung ein, es fehle an hinreichendem Tatverdacht. Auch wenn es zu einer Anklage kommt, bleiben Verurteilungen selten. 2021 wurden von 80 angeklagten Beamt*innen lediglich 27 schuldig gesprochen – eine Verurteilungsquote von 34 Prozent, in anderen Strafverfahren liegt diese bei 81 Prozent.

Als Grund für diesen strafrechtlichen Sonderstatus verweisen die Autor*innen der Studie unter anderem auf eine problematische Beweislage. Oft stehen sich in solchen Verfahren auch die Aussagen von Betroffenen und Beschuldigten gegenüber. Dabei glaubt die Justiz gern der Polizei – der Strafrechtler Lukas Theune spricht dazu von »Berufszeugen«. Wie im Fall von Mouhamed Dramé werden die nach einem Todesschuss zwingend eingeleiteten Ermittlungen außerdem von Polizist*innen geführt – ein klarer Interessenkonflikt, denn Polizei und Staatsanwaltschaft arbeiten dabei zusammen.

Das Dortmunder Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Eine Revision durch den Bundesgerichtshof in Karlsruhe ist auf Antrag möglich.

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