Der Aufbruch ist versiegt

Ein Streit innerhalb der Regierungspartei lähmt die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Bolivien

  • Malte Seiwerth, La Paz
  • Lesedauer: 7 Min.
Noch vor wenigen Jahren galt Bolivien als das Land mit der geringsten Inflation in Südamerika. Zuletzt sind die Preise aber gestiegen, vor allem Lebensmittel sind deutlich teurer geworden.
Noch vor wenigen Jahren galt Bolivien als das Land mit der geringsten Inflation in Südamerika. Zuletzt sind die Preise aber gestiegen, vor allem Lebensmittel sind deutlich teurer geworden.

»Alles wird teurer«, klagt die Händlerin Beatriz Alvear. Jeden Monat müsse sie die Preise der Waren in ihrem Lebensmittelladen um einen Boliviano erhöhen – umgerechnet etwa zehn Cent. Die Reaktion ihrer Kund*innen in La Paz sei zunehmend gereizt. Viele kauften weniger. »Ich weiß nicht, warum, aber wir stecken in einer Wirtschaftskrise«, sagt sie besorgt.

Noch vor wenigen Jahren galt Bolivien als das Land mit der geringsten Inflation in Südamerika. Inzwischen steckt es aber in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Notlage. Die Einnahmen aus Erdgasexporten, einer der wichtigsten Quellen für staatliche Subventionen, sind weggebrochen. Gleichzeitig ist die regierende Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) durch interne Machtkämpfe gelähmt. Die Spannungen zwischen den Anhänger*innen des amtierenden Präsidenten Luis Arce und denen seines Vorgängers Evo Morales gefährden inzwischen die Stabilität der Regierung – und die des Landes.

Die Bevölkerung steht fassungslos vor diesem politischen und wirtschaftlichen Chaos. Viele Bolivianer*innen haben das Vertrauen in die MAS und dem versprochenen »Prozess des Wandels« verloren. Auch die für den 15. Dezember geplante Richter*innenwahl wird daran wenig ändern. Gemäß der Verfassung von 2009 wählt das Volk die höchsten richterlichen Gewalten des Landes selbst, nachdem das Parlament zuvor die Kandidat*innen aufgestellt hat.

Sozialismus auf dem Papier

»Ich habe geweint, als Evo Morales 2006 die Präsidentenschärpe erhielt«, sagt der Musiker und Aktivst Gonzalo Huaranca, der aus einer Aymara-Familie stammt. 40 Prozent der Bevölkerung in Bolivien gehören zu den 36 anerkannten indigenen Gruppen im Land. Dieser große Teil der Bevölkerung sah sich lange Zeit diskriminiert und von den staatlichen Institutionen ausgeschlossen. Der Staat war im Besitz der weißen Oberschicht. Huaranca erinnert sich noch an das Massaker von Weihnachten 1996, als ein Bergbaustreik gewalttätig niedergeschlagen und elf Minenarbeiter von der Polizei umgebracht wurden. »Es war Gefühl der Ohnmacht. Wir, die Aymara, waren Menschen zweiter Klasse.« Umso größer war der Enthusiasmus von Huaranca, als Ende der 90er-Jahre eine starke indigene Bewegung entstand. Einer der wichtigsten Personen war von Beginn an Evo Morales, der selbst zu den Aymara gehört. Diese Bewegung wollte Macht erlangen und einen gesellschaftlichen Wandel einleiten.

Nach drei Jahren im Amt setzte die Regierung Morales 2009 eine neue Verfassung in Kraft, die Bolivien offiziell zu einem plurinationalen Staat erklärte. Damit sollen die Rechte der vielen indigenen Gemeinschaften anerkannt und das politische System demokratisch und sozialstaatlich gestaltet werden. Der viel zitierte Sozialismus des 21. Jahrhunderts nahm Form an.

»Zum ersten Mal garantierte der Staat Rechte, die zuvor nicht existierten«, erklärt Pedro Callisaya Aro, Ombudsmann und Leiter der Defensoría del Pueblo, eine durch die Verfassung gegründete unabhängige Institution zur Förderung und Verteidigung der Menschenrechte. Doch trotz der bahnbrechenden Reformen sieht Callisaya die Umsetzung dieser Rechte heute als unzureichend an: »Indigene Rechte, Umweltstandards und Gleichstellung der Geschlechter werden oft ignoriert.«

Offensichtlich ist der von der Regierung eingeleitete Fortschritt noch nicht überall angekommen. Zenobia Mamani kann das bestätigen, sie ist bei der nationalen Föderation der Hausarbeiterinnen für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Der Alltag dieser Frauen habe sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert, erklärt sie. Viele Hausarbeiterinnen würden immer noch nur die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns von umgerechnet etwa 250 Euro erhalten, und dabei hätten viele Frauen nicht einmal einen freien Tag in der Woche.

Mamani unterstützt auch ganz konkret die Hausarbeiterinnen. »Wir gehen gemeinsam zum Arbeitsministerium und fordern eine Schlichtung«, erzählt sie. »Die Frauen verlangen einzig, dass das Recht auf Gleichbehandlung vor dem Gesetz umgesetzt wird.« Doch anstatt ihre Rechte zu stärken, komme es oft vor, dass die Arbeitgeber*innen nicht erscheinen, woraufhin das Ministerium schließlich erkläre, man könne nichts weiter tun. Folglich würden die gesetzlichen Arbeitsvorschriften weiterhin nicht umgesetzt. Deshalb litten die Hausarbeiterinnen besonders unter der aktuellen Wirtschaftskrise, meint Mamani. »Unsere Genossinnen leben von der Hand in den Mund.« Wer aktuell keine Arbeit habe, stehe am Ende des Tages auch ohne Essen da.

In ihrer Not sind die Haushälterinnen nicht alleine. Zwar gibt es durchaus beachtliche Fortschritte der MAS-Regierung im Kampf gegen die Armut, aber noch immer können etwa 20 Prozent der bolivianischen Bevölkerung nicht einmal die grundlegendsten Lebensmittelbedürfnisse decken. Weiterhin stehen laut der Internationalen Organisation für Arbeit (ILO) rund 80 Prozent der Menschen nicht in geregelten Beschäftigungsverhältnissen.

Dem Staat fehlen derzeit die Mittel, um Infrastrukturprojekte und Subventionen zu finanzieren. Das liegt auch daran, dass die einst sprudelnden Gasquellen, eine zentrale Einnahmequelle des Staates, mittlerweile versiegt sind. Inzwischen ist es nicht mehr möglich, den staatlich regulierten Wechselkurs des Boliviano aufrechtzuerhalten. In den Wechselstuben stieg der Kurs des Euro in nur zehn Monaten von sieben auf mittlerweile 13 Bolivianos.

Trotzdem hält die Regierung an einem gedeckelten Benzinpreis fest, um eine stärkere Inflation zu verhindern. Um günstiges Öl zu importieren, setzt sie auf Geschäfte mit Russland, das im Gegenzug offenbar das Recht erhält, das begehrte Lithium im Land abzubauen.

Zerstrittene Regierung

Politisch ist die Regierung gespalten. Seit zwei Jahren stehen sich Anhänger des amtierenden Präsidenten Luis Arce und des ehemaligen Präsidenten Evo Morales unversöhnlich gegenüber. Beide wollen bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr als Kandidaten der Regierungspartei antreten.

Dieser Machtkampf hat längst auch die Rechtsprechung erreicht. Das derzeitige Verfassungsgericht steht auf der Seite von Luis Arce und erklärt, Morales habe laut Verfassung nach zwei Amtszeiten kein Recht auf eine Wiederwahl. Noch im Jahr 2017 hatte dasselbe Gericht jedoch das Gegenteil entschieden: Obwohl die Verfassung eine dritte Wiederwahl verbietet, habe Morales ein »Menschenrecht«, erneut zu kandidieren, hieß es seinerzeit. »Das war ein schreckliches Signal«, sagt der Ombudsmann Callisaya. »Die Bevölkerung fühlte sich verraten.«

Am Sonntag sollten eigentlich alle obersten Richter*innen des Landes neu gewählt werden. Doch am Ende werden nur vier von neun Posten neu vergeben, weil verfassungsrechtliche Fristen nicht eingehalten wurden. Callisaya kritisiert dies: »Dadurch behalten die aktuellen Richter mehr Macht als die neu gewählten. Das widerspricht dem demokratischen Willen.« Insgesamt schwäche der Machtkampf zwischen Arce und Morales die staatlichen Institutionen. »In vielen Institutionen gibt es Interimsdirektoren, weil das Parlament sich nicht auf neue Personen einigen konnte.« Diese seien deutlich weniger demokratisch legitimiert.

Im September und Oktober eskalierte der Streit um eine weitere Amtszeit von Morales. Seine Anhänger*innen blockierten mehr als drei Wochen lang wichtige Straßen des Landes. Landwirt*innen verloren dadurch ihre Ernten, und die Großstadt La Paz musste per Flugbrücke mit Fleisch versorgt werden. Callisaya weist auf die harsche Reaktion des Staates hin: »Über 100 Personen sitzen in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt teils wegen Terrorismus.« Diese Proteste führten zu Einschränkungen der Menschenrechte, das missfällt Callisaya.

Seine Ombudsstelle werde mittlerweile scharf kritisiert. »Wir verteidigen lediglich die Menschenrechte«, sagt Callisaya und betont seine Unabhängigkeit, dass er in diesem Konflikt keine Partei ergreife. Dennoch warnt er: Die Politik scheine nicht in der Lage, die aktuellen Probleme zu lösen, was zu einer Verdrossenheit führe. »Seit mehr als 40 Jahren leben wir in einer Demokratie. Plötzlich scheint es, als ob die Bevölkerung ihre demokratischen Rechte für wirtschaftliche Stabilität eintauschen möchte.«

Im kommenden August stehen in Bolivien Präsidentschaftswahlen an. Angesichts der Zerstrittenheit ist ungewiss, ob die MAS erneut eine Mehrheit erhält. Im rechten Spektrum bereitet der in den USA lebende Unternehmer Raúl Clauré mit erheblichem finanziellen Einsatz einen Machtwechsel vor. In den sozialen Medien fordert er neoliberale Reformen und eine Verkleinerung des Staates. Umfragen, die von ihm in Auftrag gegeben wurden, sehen tatsächlich seinen Kandidaten, Manfred Reyes, als Favoriten ins Rennen gehen. Reyes ist Bürgermeister von Cochabamba, der drittgrößten Stadt Boliviens und Sohn des Verteidigungsministers während der Militärdiktatur von Luis García Meza (1980–1981).

Doch die indigene Bevölkerung ist trotz der Krisenstimmung nach wie vor selbstbewusst. Ihr Wunsch nach politischer Teilhabe wird weiterhin die Zukunft des Landes prägen, auch wenn die Hoffnung auf eine bessere Zukunft vorerst verflogen zu sein scheint. Von einem »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« reden heute vor allem die Kritiker*innen der MAS, die den Prozess gescheitert sehen.

Viele Bolivianer*innen haben das Vertrauen in die Regierungspartei MAS und dem versprochenen »Prozess des Wandels« verloren.

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