- Kultur
- Menschen mit Behinderung
Der lustige Sidekick
Früher wurden Schauspieler für ihre Rollen als Behinderte mit Oscars überhäuft. Heute sind solche Figuren nur lustige Sidekicks und nie realistisch
Die Selbstherrlichkeit der FDP ist keine Soap. An dem Tag, als die FDP beschloss, die Ampel tatsächlich zu sprengen, stand ein Programmpunkt auf der Tagesordnung des Parlaments, der schon seit Jahrzehnten irgendwelchen Befindlichkeiten untergeordnet wurde: die Anerkennung der Opfer der verschiedenen T-Aktionen (gemeint ist der systematische Massenmord an Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen während des Nationalsozialismus) und eine tiefere Erforschung dessen, was die Vernichtung sogenannten »lebensunwerten Lebens« möglich machte.
Dann aber kam Christian Lindner mit seinem D-Day und »befreite« Deutschland von dieser Diskussion, die unbedingt notwendig wäre, aber nie geführt wird. Dieses trotzige Kind, das der Liberalismus in der westlichen Welt geworden ist, das nichts weiter zu tun vermag, als zu plärren – ich will mein Schnitzel, ich will meine Anerkennung! –, ist aber längst nicht mehr nur ein schotiges Ärgernis, sondern Symptom einer Gesellschaft, die Verantwortung aktiv verdrängt.
Wir erzählen völlig unzureichend von Menschen, die als geistig behindert gelten, was umso verheerender ist, als dass wir uns einem allgemeinen Rechtsruck gegenübersehen.
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Diese Verantwortungslosigkeit geht auf Kosten aller marginalisierten Gruppen, ist aber ohnehin schon lange vorbereitet. Die mangelhafte Aufarbeitung mag in unterschiedlichen Phasen verschiedene Gründe haben, kulminiert aber immer in diesem Gesicht, das Lindner macht, wenn er sagt, er sei menschlich enttäuscht. So eine Nebensächlichkeit wie über 300 000 Tote, die den Vernichtungsaktionen zum Opfer fielen, und all die Menschen, die zwangssterilisiert wurden, haben hinter dieser persönlichen Kränkung freilich einmal mehr zurückzustehen. Was ist schon das Leid all dieser Menschen gegenüber den Tränen eines Christian Lindner?
Dass Lindners Tränensäcke damit durchkommen, liegt auch daran, wie über Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung erzählt wird. Denn dass es kaum jemandem aufgefallen ist, dass dieser Antrag nicht beschlossen wurde, liegt auch daran, dass das kollektive Wissen über Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung geprägt ist von Erzählungen, die – und alle wissen das – nicht ferner von der Realität sein könnten.
Nach wie vor die wirkmächtigsten Erzählungen über Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung sind Filme aus den späten 80ern und frühen 90ern: »Rain Man«, »Gilbert Grape«, »Forrest Gump«. Sie waren Grundlage diverser schauspielerischer Weltkarrieren, auch weil es damals das Paradigma des »handicapable« noch gab: Ernsthaft als für den Oscar infrage kommend, galt eine Weile lang nur, wer eine behinderte Figur so spielen konnte, dass sie für ein nicht behindertes Publikum überzeugend war. Diese Art der Überzeugungsarbeit war im Übrigen völlig losgelöst von jeder Authentizität: Dustin Hoffmans Darbietung in der Rolle des Charlie Babbit wird noch heute häufig als Paradebeispiel eines Asperger-Autisten verwendet, obwohl es so was wie Asperger gar nicht gibt und auch die reale Figur, auf die die Rolle referiert, kein Autist war.
Es ist auch gar nicht so schwer, darauf zu kommen, dass insbesondere »Forrest Gump« und »Rain Man« profund gelogen sind: Es sind keine Filme über Menschen mit sogenannter Behinderung, es sind schlicht Road Movies. Das Setting eines Road Movies unterscheidet sich fundamental von den Lebensbedingungen, die Personen mit sogenannter geistiger Behinderung vorfinden. Anders gesagt: Wer als geistig behindert gilt, braucht sehr viel Geld, um überhaupt in die Nähe eines persönlichen Road Movies zu kommen.
Die erzählerische Dynamik, die es für eine publikumswirksame Geschichte braucht, ist in den Einrichtungen, in denen Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung untergebracht werden, nicht zu finden. Dieser Wahrheit am nächsten kommt noch immer »Einer flog übers Kuckucksnest«, der Film ist fast 50 Jahre alt und featured eine Hauptfigur, die eben nicht geistig behindert ist, aber geistig behindert gemacht wird. Die Pointe des Films – wer sich auflehnt, wird lobotomiert – ist schön, aber wahr. Dass die Pointe des Films die Herstellung einer Ordnung ist, die die Menschen, die in diesen Einrichtungen leben, bis zur Zerstörung zurichtet – diese Erkenntnis verschwindet hinter dem roh-feinsinnigen Spiel Jack Nicholsons. Auch er erhielt einen Oscar für seine Darbietung.
Seit Mitte der 90er ist es nicht mehr opportun, so zu tun, als wäre man behindert, um dafür Applaus von Kolleg*innen zu bekommen. Stattdessen hat die Zahl behinderter Nebenfiguren stark zugenommen. Oft sind sie komische Sidekicks wie in Marina Lewyckas »Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere«: Da hat irgendwer Trisomie 21 und ist dann halt besonders süß und lustig. Für einen eigenen Plot reicht aber diese Süße und Lustigkeit eben nie, dazu sind diese Figuren viel zu abhängig. Sie sind Pointenlieferant*innen, Doppelagent*innen zwischen Normalität und Subversion.
Eine dritte, neuere Erzähltradition der sogenannten geistigen Behinderung ist die Geschichte der sekundären Betroffenheit: Bücher von Eltern, deren Kinder diagnostiziert wurden. Auch dieses Genre verfolgt in der Gesamtschau eine Agenda: Es sind in der Regel Mittelschichtseltern, die diese Art von Buch verfassen.
Die Titel sind häufig direkt und emotional und folgen einem klaren Aufbau: die glückliche Nachricht von der Schwangerschaft; die Nachricht, dass etwas nicht stimmt; der wortlose Schock darüber; die Trauer, recht schnell auch Schuld und Scham; die Reaktionen von Freund*innen und Familie, ambivalent oft, enttäuschend manchmal, unerwartet; der Gang durch all die medizinischen Untersuchungen; Ärzt*innen, die scheiße sind, Ärzt*innen, die verständnisvoll sind; die Erlösung bei der Geburt, dass man doch die Liebe verspürt; ein Fortgang, der dann kein gewöhnlicher, aber ein machbarer, lustiger ist. Und es gibt kein Buch, in dem am Ende nicht fortwährend von der tiefen Liebe gesprochen wird. Es sind Betroffenenbücher, die betroffen machen sollen, aber am Ende nur Mitleid heischen. Ist auch klar, die Eltern sind schon deswegen besser als andere, weil sie angesichts der Diagnose nicht abgetrieben haben. Bei aller Liebe: So kann Emanzipation nicht gelingen.
Wir erzählen völlig unzureichend von Menschen, die als geistig behindert gelten, was umso verheerender ist, als dass wir uns einem allgemeinen Rechtsruck gegenübersehen: ob nun Donald Trump Kamala Harris als minderbemittelt bezeichnet oder die AfD Nachrichten in einfacher Sprache als idiotisch abtut. Die mangelnde Sichtbarkeit macht die Entstehung und Verfestigung von Stereotypen möglich, mit der Konsequenz, dass alles Erzählen über die realen Bedingungen von Behinderung immer den Ruch des Sozialkitsches mit sich herumträgt.
Die Idee, dass ein Erzählen des faktisch Realen immer auch ein Aufstand gegen diese zugemutete Wirklichkeit ist, scheint ferner als noch in den 70er Jahren. Die ungemütliche Realität der Outsider und Marginalisierten wird im Film arg verfälscht dargestellt, damit überhaupt ein relevantes Publikum erreicht wird. Wir sind, was jene Erzählungen anbelangt, in einer Epoche des Biedermeiers angekommen.
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